Kompostierbare T-Shirts, Handschmeichler aus Magnesium oder Bleistifte als haptische Erklärungshilfe – ginge es nach dem Chemiker und Verfahrenstechniker Prof. Michael Braungart, würde intelligentes Design die Welt von morgen bestimmen. In dieser kann Konsum dann wieder lustvoll zelebriert werden, und das schlechte Öko-Gewissen wandert auf den Müll. Übrigens das Einzige, was dort noch landet.

bio tech cycles RUND 20150505 DE high resolution - „Abfall ist Nährstoff“

Herr Braungart, Sie sind Mitbegründer des Cradle to Cradle-Prinzips (C2C), wörtlich übersetzt: „von der Wiege zur Wiege“. Demnach sollen Produkte schon bei der Entwicklung so konzipiert werden, dass ihre einzelnen Bestandteile ohne Qualitätsverlust im Wertstoffkreislauf erhalten bleiben. Geht Ihnen der Umweltschutz hierzulande nicht weit genug?

Michael Braungart: Wir müssen aufhören, uns als Schädlinge zu begreifen. Bislang geht es beim Umweltschutz nur darum, Energie zu sparen, den Wasserverbrauch zu reduzieren oder weniger Müll zu produzieren. Doch das hat nichts mit dem Schutz der Umwelt zu tun, sie wird nur weniger belastet. Auf den Kinderschutz übertragen, würde das bedeuten: Schützt eure Kinder, indem ihr sie weniger schlagt. Unser Ansatz ist ein grundlegend anderer: Menschen können nützlich sein, nicht weniger schädlich. Ganz nach dem Vorbild der Natur, die keinen Müll kennt. Ihr Abfall ist immer Nährstoff.

Damit geben Sie der Nachhaltigkeitsdiskussion einen ganz neuen Dreh …

Michael Braungart: Diese Diskussion kommt aus dem Norden, aus Skandinavien. Vielleicht muss man dort sparen, vermeiden und verzichten, um durch den Winter zu kommen. Vielleicht ist dort jeder Fußabdruck zerstörerisch, weil er zu Bodenerosionen führt. Wenn ich jedoch den Rhein oder die Donau entlanglaufe, dann wird aus jedem Fußbadruck ein kleines Feuchtgebiet. Das ist die südliche Perspektive, die den Menschen für seinen Fußabdruck feiert. Die Brundtland-Kommission definiert Nachhaltigkeit als Entwicklung, die den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden. Das ist ein trauriges Konzept und wäre so, als wenn man nach Hause käme und zu seinen Kindern sagen würde: Ich möchte euch nicht gefährden, ich bin heute kinderneutral. Es gibt einfach viel zu viele Absurditäten, weil bestehende Produkte extrem primitiv gestaltet wurden. Fasst man z.B. einen Kassenzettel an, werden mit dem Thermopapier über die Haut zwei Dutzend Chemikalien aufgenommen, die sich später in der Muttermilch nachweisen lassen. Jeder Kassenzettel, jeder Parkschein ist ein Haufen Sondermüll. Hier müssen wir ansetzen.

Cradle to Cradle fordert das konsequente Denken in endlosen Materialkreisläufen und formuliert die Vision einer Welt ohne Müll. Wie kann das bei unserem Konsum funktionieren?

Michael Braungart: Wir müssen unsere Nährstoffkreisläufe intelligent gestalten – entweder in biologischen oder technischen Kreisläufen. Alles was verschleißt bzw. verbraucht wird, z.B. Schuhsohlen, Bremsbeläge oder Waschmittel, muss biologisch nützlich sein. Es muss so umweltfreundlich gestaltet werden, dass man es anschließend bedenkenlos in den Kompost werfen kann. Alles was hingegen nur genutzt bzw. gebraucht wird, so wie Waschmaschinen, Fernseher oder Computer, muss technisch nutzbar gemacht werden. Die technischen Nährstoffe müssen sich wieder in Produktionskreisläufe zurückführen lassen – ohne dabei an Materialwert zu verlieren.

Was folgt daraus für die Produktentwicklung?

Michael Braungart: Wir können 40 Jahre Weltuntergangsdiskussion als Innovationschance begreifen und Produkte noch einmal völlig neu gestalten. Wenn Hersteller z.B. statt einer Waschmaschine die Dienstleistung „3.000 Mal Waschen“ verkaufen würden, könnten sie in den Geräten die besten Materialien verbauen. Statt der bislang im Durchschnitt 150 verwendeten, zumeist billigen Kunststoffe, ließe sich die Maschine mit fünf Kunststoffen herstellen, die später dann wieder in der Technosphäre einsetzbar wären. So entstehen nicht nur bessere, sondern auch kostengünstigere Produkte, da die Intelligenz in die Produktgestaltung und nicht in nachgeschaltete Filter oder Kläranlagen gesteckt wird. Analog dazu könnten Fensterbauer statt Fenstern die Dienstleistungen „Wärmedämmung und Durchblick“ verkaufen. Und warum sollte ich Interesse an 4.360 Chemikalien haben, wenn ich eigentlich nur Fernsehen gucken will? Während meiner Studienzeit wurde ich für diese Frage noch als Öko-Kommunist beschimpft. Die jungen Leute von heute ticken jedoch ganz anders: Sie müssen Gebrauchsgegenstände wie z.B. Autos nicht besitzen, sie wollen sie nutzen.

Welche Produkte werden bereits für solche geschlossenen Kreisläufe produziert?

Michael Braungart: Wir beschäftigen uns seit Anfang der 1990er mit der Neugestaltung von Produkten. So haben wir etwa für den Airbus 380 kompostierbare, quasi „essbare“ Sitzbezüge entwickelt, die als Nährstoffe, z.B. als Torfersatz in Gärtnereien, in den biologischen Kreislauf zurückgeführt werden können. Mit herkömmlichen Möbelbezügen wäre das undenkbar, sie müssen als Sondermüll verbrannt werden. Ein innovatives Produktbeispiel für die Zirkulation im technischen Kreislauf sind spezielle Teppichböden, die wir gemeinsam mit niederländischen Unternehmen Desso entworfen haben. Diese sind nicht nur nicht giftig, sondern reinigen die Luft auch aktiv von Feinstaub. Der Teppich übernimmt hier also, was sonst die Lunge übernehmen müsste. Mit diesen Produkten erzielt das Unternehmen Umsatzrenditen, die deutlich über 25% liegen.

06FS kompost shirt 02 Trigema - „Abfall ist Nährstoff“
06FS kompost shirt 03 Trigema - „Abfall ist Nährstoff“
Kompostierbare T-Shirts: Zusammen mit EPEA hat Trigema 2006 die ersten Shirts entwickelt, die man nach ihrem Gebrauch getrost auf den Kompost werfen kann, sodass sie wieder in den natürlichen Kreislauf gelangen.

Ein wichtiger Produktbereich der Werbeartikelbranche sind Textilien. Gibt es hier bereits Best Practice-Beispiele?

Michael Braungart: 2006 haben wir zusammen mit dem Bekleidungsartikelhersteller Trigema das erste kompostierbare TShirt entwickelt, das tatsächlich für den Hautkontakt gemacht ist – von der Bio-Baumwolle über biologisch abbaubare Farben bis hin zu den Nähten. Erstmals hat auch C&A in diesem Sommer 400.000 Cradle to Cradle-zertifizierte T-Shirts aus Bio-Baumwolle angeboten, die inzwischen auch in Ländern wie Bangladesch oder Vietnam produziert werden können. Wenn haptische Werbeträger derart gestaltet werden, dann sind sie eine wunderbare Form der Kommunikation, weil sie für eine Kultur der Großzügigkeit und des Schenkens stehen. Andernfalls übergeben Unternehmen ihren Kunden nur Sondermüll.

Haben Sie ein paar konkrete Ideen für die Branche?

Michael Braungart: Gegenständliche Werbeträger sollten dafür genutzt werden, Menschen zu inspirieren und ihnen eine echte Freude zu bereiten. Dann sind sie nicht mehr nur ein Werbegimmick, sondern eine Innovationsplattform, die den Menschen zeigt, wie die Zukunft aussehen kann. Sie müssen jedoch völlig neu gestaltet werden. Man könnte z.B. Handschmeichler aus Magnesium entwickeln, die über den Abrieb die Aufnahme des lebenswichtigen Minerals ermöglichen. Das wäre ein wunderbarer Werbeartikel, von dem die Empfänger wirklich etwas hätten, zumal fast alle Menschen unter Magnesiummangel leiden. Darüber hinaus würden sich haptische Erklärungshilfen anbieten, um neue Werkstoffe nicht nur vorzustellen, sondern auch sinnlich erfahrbar zu machen. Z.B. könnte ich ein Kiefernholzstäbchen mit einem Konservierungsmittel behandeln und es damit so haltbar wie Teakholz machen. Mit dem entsprechenden Werbeträger, z.B. einem Bleistift, ließe sich dann die Botschaft transportieren: Stabile Terrassen lassen sich nicht nur mit Teakholz, sondern auch mit heimischen Hölzer bauen.

SHO8184 - „Abfall ist Nährstoff“
AP Desert AirMaster 8834 zoom - „Abfall ist Nährstoff“
Desso hat sich 2008 auf den Weg gemacht, zu einem C2C-Unternehmen zu werden. Die EcoBase-Rückenbeschichtung wird aus 100% positiv bewerteten Bestandteilen hergestellt und lässt sich in den Produktionsstätten gänzlich wiederverwenden. Darüber hinaus binden die AirMaster-Teppichfliesen Feinstaub und sorgen so für eine bessere Raumluftqualität.

Das heißt, Unternehmen dürften bei den Werbeartikeln ohne schlechtes Öko-Gewissen aus dem Vollen schöpfen …

Michael Braungart: … oder sie verleihen haptische Botschafter für einen bestimmten Zeitraum. Unternehmen könnten z.B. Kalender einsetzen, die am Ende des Jahres zurückgenommen werden, damit aus ihnen etwas Neues entsteht. So blieben Unternehmen im Kontakt mit ihren Kunden und würden nicht jahrelang unnützes Zeug an Menschen verschicken, die vielleicht schon gar nicht mehr im Unternehmen tätig sind.

Cradle to Cradle ist eine Denkschule und gleichzeitig ein durch das Cradle to Cradle Products Innovation Institute vergebenes Qualitätssiegel, das u.a. die Verwendung von umweltsicheren, gesunden und wiederverwertbaren Materialien (technische Wiederverwertung oder Kompostierung) beurkundet …

Michael Braungart: Inzwischen gibt es bereits mehr als 8.000 zertifizierte Cradle to Cradle-Produkte aus den unterschiedlichsten Bereichen. Z.B. nutzt Stabilo für seinen C2C-Stift nicht nur Produktionsabfälle aus Polypropylen, sondern hat mit uns zusammen auch die erste biologisch unbedenkliche Schreibflüssigkeit entwickelt. So bleibt das Papier in seiner Qualität erhalten, während herkömmliche Stifte Sondermüll daraus machen.

Ihr Ansatz erfordert einen radikalen Umbau unseres Wirtschaftssystems. In welchen Zeiträumen rechnen Sie hier?

Michael Braungart: Zurzeit wird vieles umgesetzt, u.a. in den Niederlanden, aber auch in den USA, Dänemark, Österreich, der Schweiz und Deutschland. In Taiwan wurde eigens eine Cradle to Cradle-Allianz gegründet, die Regierung, Unternehmen, NGOs und Forschungsinstitutionen vereint – mit dem Ziel, Taiwan zu einer C2C-Insel zu machen. Wer also in Asien fertigen lässt, ist dort gut aufgehoben, nicht zuletzt, weil die Regierung C2C-Zertifizierungen unterstützt. Aber natürlich brauchen historische Veränderungen Zeit, selbst wenn man fundamentale Wahrheiten längst begriffen hat. So lagen auch zwischen der Proklamation der Menschen- und Bürgerrechte und dem Frauenwahlrecht in Deutschland beinahe 130 Jahre. Wenn man sich solche Zeiträume vor Augen führt, lernt man, bescheidener zu werden.
Cradle to Cradle Workshop - „Abfall ist Nährstoff“Ich bin mir jedoch sicher, dass sich die Industriegesellschaft bis 2040 komplett auf Cradle to Cradle umgestellt haben wird. Alleine in Deutschland gibt es mehrere Hundert Aktive, darunter zahlreiche junge Designer, die Produkte nicht nur hübscher, sondern von Grund auf neu gestalten wollen und damit zum Schlüsselfaktor der Produktion werden.

// Mit Michael Braungart sprach Andrea Bothe.

Bildquelle: Desso (2); EPEA Internationale Umweltforschung (2); Trigema (2)

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