Im Zuge des digitalen Wandels sind 24/7-Verfügbarkeit, blitzschnelle Reaktion und Lieferung binnen kürzester Zeit zu Standards geworden. Um diesen Marktanforderungen gerecht zu werden, arbeiten Unternehmen mit Hochdruck an der Optimierung und Digitalisierung ihrer Workflows und internen Abläufe. Ein Prozess, der nicht beim Programmieren beginnt, sondern weit vorher.

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„Wir melden uns schnellstmöglich bei Ihnen zurück“ – ein Satz, wie er vor nicht allzu langer Zeit in jedem Vertriebsbüro täglich sicher dutzendfach fiel und der inzwischen in mehrfacher Hinsicht ein Antagonismus ist: Nicht nur setzt dieser Satz einen Kontakt – ob persönlich, telefonisch oder per E-Mail – zwischen Kunden und Lieferant bzw. Händler voraus, wie er inzwischen häufig überhaupt nicht mehr stattfindet. Auch die Tatsache, dass eine Information nicht ad hoc vorliegt, wird immer ungewöhnlicher. „Die Entwicklung geht in Richtung Echtzeitverfügbarkeit“, so Daniel Jeschonowski, Geschäftsführer des Schreibgeräte- und Keramikspezialisten Senator. „Das betrifft alle Bereiche des Unternehmens, ob Mitarbeiter, die ihre Zeitkonten minutengenau abrufen können, oder Kunden, die in Echtzeit Informationen zu Lagerbestand, Durchlaufzeit, Lieferdatum etc. erwarten, und zwar von einem einzigen Ansprechpartner.“

Aufträge werden binnen Minuten platziert und angestoßen, und die Ware wird binnen weniger Tage, wenn nicht gar Stunden, veredelt, konfektioniert, verpackt und an den Versandpartner übergeben. „Die Anforderungen an Lager und Logistik werden immer komplexer“, so Marcus Sperber, Geschäftsführer des Importeurs und Kunststoffspritzgießers elasto. „Durch den stark wachsenden eCommerce-Bereich muss Ware kürzer vorgehalten und schneller ausgeliefert werden.“ Kai Gminder, Geschäftsführer des Textillieferanten Gustav Daiber, ergänzt: „Der Kunde will möglichst alles möglichst sofort. Inzwischen machen wir 70% unseres Umsatzes im eCommerce, in großen Teilen bedingt durch eine sich verjüngende Käuferschaft, die am liebsten alles online abwickelt.“ Um diesen Marktveränderungen gerecht zu werden, genügt es bei Weitem nicht, den Webshop, die Kommunikations-Infrastruktur und den Maschinenpark auf dem neuesten Stand zu halten. Die vielleicht wichtigste Baustelle liegt im Herz jedes Unternehmens: den internen Prozessen. „Reibungslose, effiziente und fehlerfreie Abläufe sind ein entscheidender Erfolgsfaktor, der ohne einen gewissen Grad an Digitalisierung nicht gewährleistet werden kann“, so Sperber. „Deshalb haben wir unsere Prozesse und Workflows stetig optimiert, eine eigene eCommerce-Abteilung gegründet und die IT-Systemlandschaft ausgebaut. Wir tauschen uns regelmäßig mit IT- und Geschäftspartnern aus und qualifizieren unsere Mitarbeiter, damit sie immer auf dem neuesten Stand sind.“

Eine Aufgabe, die nicht nur Werbeartikellieferanten, sondern auch -wiederverkäufer betrifft, insbesondere große, international operierende Werbeartikelagenturen. „Manchmal ist es beinahe erschreckend, wie digital wir bereits geworden sind“, meint Steven Baumgärtner, Geschäftsführer von Cyberwear. „Bei Standardprodukten ist der Mitarbeiter im Lager, der eine Ware scannt und verpackt, das einzig ‚analoge‘ im Verkaufsprozess, der ansonsten komplett online stattfindet – von der Bestellung im Shop bis zum UPS-Etikett und der digitalen Rechnung. Wir arbeiten weitgehend papierfrei, haben kein Faxgerät mehr, Briefe werden eingescannt und anschließend geschreddert. Auch in der internen Kommunikation sind wir aufgrund weltweit verstreuter Niederlassungen extrem digitalisiert – mit Intranet, digitalem Rechnungsfreigabebuch und digitalen Meetings. Manchmal müssen wir unsere Mitarbeiter geradezu dazu anhalten, doch mal wieder miteinander zu reden.“ Dabei sah das vor nicht allzu langer Zeit noch ganz anders aus. „Vor fünf Jahren noch hatten wir einen Mitarbeiter, der für die IT zuständig war – heute sind es 16“, so Baumgärtner weiter. „Zwei Mitarbeiter im Controlling analysieren dabei permanent den Workflow und überlegen, wie wie noch leaner werden können.“ Dabei geht es nicht nur darum, Schnelligkeit zu garantieren, sondern in der Konsequenz auch darum, Kosten zu sparen und bessere Margen zu erzielen. Baumgärtner: „Effizienz und Qualität stehen an oberster Stelle, und diese Faktoren bedingen weitere, etwa die Kostenoptimierung. Je effizienter wir sind, desto eher können wir im Zweifel auch mal ein halbes Prozent Marge an den Kunden weitergeben – das konnten wir vor einigen Jahren noch nicht.“ Idealerweise stehen am Ende Vorgänge, die von der Auftragsannahme bis hin zum Picking im Lager komplett digitalisiert abgebildet werden, während alle relevanten Informationen sauber hinterlegt und sofort abrufbar sind: Auftragsbezogene Informationen – welcher Artikel, für wen, wann, wie –, aber auch wichtige Punkte, die der Kunde ebenfalls abfragt, wie Zertifizierungen und Rechtliches. Im Zentrum dieser Vorgänge: die ERP (Enterprise Resource Planning). Hier werden alle geschäftsrelevanten Bereiche zusammengeführt, können im Zusammenhang betrachtet werden und sind zentral steuerbar. 

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Wie integriert man Produktion, Veredelung und Tausende Produkte? Der Werbeartikelmarkt stellt spezifische Anforderungen an ERP-Systeme.

Welche Software?

Die Frage nach dem geeigneten System ist keine neue. Bewährte ERP-Lösungen gibt es zahlreiche, nicht alle Lieferanten und Händler greifen jedoch auf Angebote einschlägig bekannter Anbieter wie CDH oder Promidata zurück, die für die Werbeartikelbranche programmiert wurden. Cyberwear etwa navigiert seinen Workflow über Sage, „eine Entscheidung, die wir bereits vor 15 Jahren getroffen haben, weil die brancheninternen Lösungen für unsere Zwecke – ursprünglich waren wir ja ein reiner Textiler – nicht geeignet waren“, erklärt Baumgärtner. „SAP wiederum konzentrierte sich damals auf Konzerne. Also haben wir eine Sage-Lösung installiert. Diese läuft stabil, es gibt weltweite Versionen – wichtig für uns als international aufgestellten Player –, und sie ist einfach zu handhaben. Nach einer Woche Learning-by-doing ist ein Mitarbeiter geschult. Dennoch gibt es immer wieder Herausforderungen, wenn es darum geht, die Software an unsere Bedürfnisse anzupassen.“ Denn mit Tausenden verschiedener Produkte, etlichen Veredelungsmöglichkeiten, komplizierten Lieferketten und einer heterogenen Kundenstruktur stellt der Werbeartikelmarkt spezifische Anforderungen. Das betrifft insbesondere Unternehmen mit umfangreichen Lagerbeständen und hoher Sortimentstiefe, ebenso wie Produzenten und Veredler. Diese Marktplayer müssen eine Vielzahl hochkomplexer Vorgänge in Datenstrukturen umwandeln und in ihre ERP integrieren. Sperber: „Eine Out-of- the-Box Lösung gibt es für uns als Hersteller und Importeur leider nicht. Immer wieder bedarf es aufgrund der verschiedenen Veredelungsmöglichkeiten, Druckpositionen und neuer Druckarten sowie der Produktionsverfahren und der damit verbundenen Komplexität Anpassungen in unserem ERP-System. Mit unseren beiden ERP-Programmierern im Haus können wir hier aber kurzfristig reagieren und sind sehr flexibel in der Adaption. Der Vorteil unseres Systems liegt v.a. darin, dass es bis zum Kern veränderbar ist und schnell unserer Anforderungen modifiziert werden kann.“

Senator setzt auf SAP und hat die Anzahl der Mitarbeiter, die damit arbeiten, eigener Aussage zufolge in den letzten zwei Jahren verdreifacht. Damit steigt auch der Aufwand im systemadministrativen Bereich, wie Jeschonowski berichtet: „Die Systeme suggerieren, dass alles kontrolliert ist. Man darf gerade deshalb nicht den Fehler machen und denken, ‚das System macht das schon‘, denn dann manövriert man am Ziel vorbei. SAP optimiert brutalstmöglich auf Kosten, minimiert Lagerbestände und regelt die Stückzahlen herunter. Würde ich mein Lagervolumen komplett durch SAP definieren, wäre es um mehrere Millionen Euro kleiner. Das geht aber nicht, denn unsere oberste Maxime lautet nicht größtmögliche Kosteneffizienz, sondern Kundenzufriedenheit. Es gilt also, Parameter im System zu ändern und Losgrößen manuell festzulegen, u.a. dafür haben wir nach wie vor eine große Dispo-Abteilung. Auch die Mix & Match-Möglichkeiten, die wir bei vielen Schreibgerätemodellen anbieten, lassen sich in SAP nur teilweise abbilden.“ Eigenheiten des Werbeartikelmarktes, die man bei den Branchen-Softwarehäusern kennt. Deren Lösungen sind weit verbreitet und haben zu Recht eine Menge Fans, funktionieren jedoch nicht für alle Unternehmenstypen im Markt, wie Gminder erklärt: „Die brancheneigenen Systeme sind gut, laufen stabil und sind gerade für kleinere Unternehmen phänomenal. Wir sind ihnen jedoch entwachsen, weil wir eine komplette Lagerlogistik brauchen. Zudem sind wir Textilspezialist und haben ein entsprechend tiefes Sortiment mit etlichen Farbstellungen, Größen und Varianten, die sich in vielen bestehenden ERP-Lösungen – sowohl brancheneigenen als auch externen – nicht zufriedenstellend integrieren lassen.“ 

Basisarbeit

Daiber entwickelt deshalb aktuell ein ganz eigenes ERP-System, das auf die Bedürfnisse des Unternehmens maßgeschneidert ist – eine Mammutaufgabe. „Früher habe ich gedacht: Die IT muss sich der Firma anpassen, aber das stimmt nicht“, so Gminder. „Es gilt v.a., die firmeninternen Prozesse derart zu optimieren, dass sie sich überhaupt digitalisieren und sinnvoll in der ERP abbilden lassen. Thorsten Dirks, CEO der Telefónica Deutschland AG, hat bereits 2015 gesagt: ‚Wenn sie einen Scheißprozess digitalisieren, dann haben sie einen scheiß digitalen Prozess‘. Dieser Spruch trifft den Nagel auf den Kopf.“ Deshalb entsteht eine gute ERP weit vor dem Programmiervorgang. Bevor das System gebaut wird, müssen Anforderungen formuliert, Abläufe definiert und bewertet werden. Das bedeutet für die Geschäftsführung, tief in die interne Struktur vorzudringen und dabei viele jahrelang eingeschliffene Abläufe in Frage zu stellen. „Ich habe bis ins kleinste Detail definiert, was ich eigentlich will, und bei den Mitarbeitern genau nachgefragt, was sie eigentlich machen“, berichtet Gminder. „Dabei stellte sich heraus, dass etliche Arbeitsschritte viel besser an anderer Stelle vorgenommen werden sollten. Zudem geschah bei uns bisher vieles ‚halbdigital‘, es wurde nach eigenen Methoden in Outlook, Excel oder mit Notizzetteln gearbeitet – all diese Nebenprozesse und Workarounds will ich eliminieren und in ein transparentes System überführen, in dem jeder exakt gleich arbeitet. Nur so lassen sich Reibungsverluste künftig weitestgehend ausschließen.“ Für Jeschonowski lässt sich ein perfektes System mit einem Wort beschreiben: Integrität. „Aus der Integrität einer Systemlandschaft ergeben sich alle weiteren entscheidenden Faktoren – Geschwindigkeit und in der Folge auch Kosteneffizienz. Das System darf keine redundanten Informationen enthalten, alles muss minutiös beschrieben und definiert sein, Fragen müssen präzise gestellt werden, und auf jede Frage darf es genau eine Antwort geben.“ „Der Computer macht selten Fehler“, ergänzt Baumgärtner. „Wenn der Prozess einmal steht, läuft er reibungslos.“ 

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Die Roboter kommen: Für viele Experten ist die Umstellung auf nahezu komplett digitale Lagerlogistik nur eine Frage der Zeit.

Mensch vs. Maschine

Und der „Faktor Mensch“ wird zukünftig wohl noch weniger ins Gewicht fallen, denn auch die Werbeartikelbranche wird sich in den kommenden Jahren noch stärker als ohnehin schon digitalisieren. „Selbst komplizierte, beratungsintensive Projekte mit einem hohen Grad an Individualisierung wird man irgendwann digital steuern können – davon war ich noch vor einem Jahr nicht überzeugt“, führt Gminder beispielhaft an. Sperber ergänzt: „Ich bin mir sicher, dass in Zukunft auch die Unterstützung von digitalen Helfern wie Drohnen und Robotern immer mehr Gewichtung findet. Letztendlich ist die Umstellung auf nahezu voll digitalisierte Lager wohl nur noch eine Frage der Zeit.“ Auch das klassische Handmuster verschwindet immer mehr zugunsten schnellerer Durchläufe, digitale Muster werden vielfach zur Norm. „Insbesondere bei einfachen Aufträgen sowie dort, wo es schnell gehen muss, setzen sich digitale Freigaben durch“, so Jeschonowski. „Ganz verschwinden werden physische Muster jedoch nicht – unsere Branche verkauft ihre Produkte über das, was der Kunde in der Hand hält.“ Ohnehin, so Baumgärtner, gebe es einen Bereich, in dem der Mensch unersetzlich ist: die Kundenbindung. „Wir sind nicht der Billigste. Wir brauchen Kunden, die unser Portfolio wollen. Dazu gehört unser Leistungsspektrum, aber auch unsere Persönlichkeit als Unternehmen. Und die ist menschlicher Natur. Die Frage ‚Computer oder Mensch‘ stellen wir uns nicht. Trotz Digitalisierung wächst unsere Mitarbeiterzahl, weil das Unternehmen stark wächst.“

Wie aber bringt man Mitarbeiter dazu, Prozesse, die sie jahrelang etabliert haben – und die lange durchaus gut funktioniert haben – aufzugeben, um neue Arbeitsabläufe zu verinnerlichen und digitaler zu denken? Wie überzeugt man sie davon, die Digitalisierung nicht als „Arbeitsplatzvernichter“ zu fürchten, sondern als Chance und Erleichterung zu betrachten? Wichtig, so Gminder, ist eine positive Einstellung, die von der Geschäftsführung vorgelebt wird: „Sicher hat der ein oder andere Angst davor, ‚wegrationalisiert‘ zu werden, aber es geht nicht um weniger Mitarbeiter, sondern um mehr Geschäft. Bislang kommt unsere interne Digitalisierung viel besser beim Team an als erwartet und erfährt viel Unterstützung und Bestätigung. Viele Mitarbeiter sind richtig heiß auf die neue ERP.“ „Eine der wichtigsten Herausforderungen ist es, das Unternehmen dahingehend aufzustellen, dass es der Digitalisierung offen gegenüber steht“, ergänzt Sperber. „Man darf sich keinesfalls nur auf einzelne Abteilungen wie IT oder Marketing konzentrieren, sondern muss Digitalisierung als neue Unternehmenskultur implementieren. Wer sich nicht traut, ein gewisses Risiko einzugehen, wird früher oder später auf der Strecke bleiben. Die Digitalisierung ist unausweichlich.“ Und das nicht nur angesichts der vielbeschworenen „Disruptoren“ wie Amazon oder Alibaba, die in Sachen eCommerce das Tempo vorgeben und zusehends in den Markt für haptische Werbung vordringen, sondern auch aufgrund eines massiven Drucks auf Kundenseite. „Weiterentwicklungen im digitalen Bereich sind zu 99% kundengetrieben“, so Baumgärtner. „Die Ansprüche vieler Kunden sind eine große Herausforderung, Lastenhefte mit mehr als 100 Seiten keine Seltenheit. Dabei ist nicht alles, was der Kunde will, möglich. Wir hängen häufig zwischen dem Marketing des Kunden und dessen IT, die ‚Besseres zu tun hat als Werbeartikel anzubinden‘. Deshalb haben wir unsere eigene IT immer von Anfang an mit an Bord.“

Nur ein Ausblick auf die „externe“ Seite der Digitalisierung. Denn natürlich ist es mit der Digitalisierung interner Abläufe längst nicht getan – noch einmal wirklich spannend wird es, wenn diese an Kundensysteme angebunden werden sollen. Um den Webshop der Zukunft geht es im nächsten Teil der Serie „Digitalisierung“. 

// Till Barth

Bildquelle: iStockphoto/yoh4nn (2); Shutterstock/Zapp2Photo (1)

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