Ende September d.J. ist die Gustav Selter GmbH, Altena, aus dem Werbeartikelmarkt ausgestiegen. Das Unternehmen will sich nach fast 50 Jahren in der haptischen Werbung fortan ausschließlich auf sein Hauptstandbein, die Fertigung von Stricknadeln, konzentrieren. Teile des Werbeartikelsortiments werden von Promowolsch, Geseke, weitergeführt. Geschäftsführer Thomas Selter über die Hintergründe seines Ausstiegs, Sockenstricknadeln aus der sauerländischen Provinz, die weltweit viral explodieren, und Tränen im Knopfloch.

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Thomas Selter

Herr Selter, Ihr Unternehmen war mehr als 50 Jahre lang eine feste Größe im Markt für haptische Werbung. Warum steigen Sie jetzt komplett aus?

Thomas Selter: Schon Ende 2016 haben wir unsere Kunden in einem Newsletter darüber informiert, dass wir das Lagergeschäft beenden. Seitdem haben wir nur noch Großaufträge projektbezogen angenommen. Ganz so überraschend kommt der jetzt vollständig erfolgte Ausstieg also nicht. Wir können dem Werbeartikelmarkt nicht mehr die Aufmerksamkeit und die Ressourcen widmen, die für eine erfolgreiche Marktbearbeitung sinnvoll und nötig wären, weil wir unsere gesamte Energie in unser Hauptstandbein stecken: Seit fast 190 Jahren produzieren wir im Sauerland Strick- und Häkelnadeln, die wir unter der Marke addi vertreiben. Dieser Geschäftszweig ist in den letzten 15 Jahren, bedingt durch einen weltweiten Handarbeits-Trend und unser Marketing, stark gewachsen, zuletzt so stark, dass wir mit der Produktion kaum hinterherkommen – obwohl wir erst kürzlich 50 neue Leute eingestellt haben und unser Team damit auf 150 Mitarbeiter angewachsen ist.

Das ist doch erfreulich – gibt es einen Grund für den jüngsten Wachstumsschub?

Thomas Selter: „Schuld“ daran ist v.a. eine neuartige Nadel, die wir vor rund einem Jahr auf den Markt gebracht haben. Diese ist in der Mitte flexibel und erlaubt es, Socken mit drei Nadeln einfacher und schneller zu stricken als bisher mit fünf Nadeln – das Ganze in besserer Qualität, als das zuvor möglich war. Wir gehen davon aus, dass wir mit diesem Produkt einen neuen Weltstandard geschaffen haben. Inzwischen können wir uns vor Aufträgen kaum retten. Wir haben die Kapazität in einigen Bereichen verdoppelt und fahren 17 Schichten pro Woche.

Wie war das neue Produkt so schnell derart erfolgreich?

Thomas Selter: Die Initialzündung war ein Meeting mit 23 Bloggerinnen und Bloggern aus aller Welt, die wir am 20. September 2017 zu uns eingeladen haben, um ihnen die neue Nadel zu präsentieren. Diese schlug ein wie eine Bombe, binnen kurzem hatten wir – geschätzt – einige Millionen Views in den sozialen Medien. Da sich das Nadelset nach dem Foto verkauft, kam sofort ein Tsunami an Aufträgen.

Investieren Sie viel in Werbung?

Thomas Selter: Wir haben eine eigene Social Media-Managerin – mittlerweile kann ich das Wort sogar aussprechen –, mehr als 5.000 Follower auf Facebook und mehr als 6.500 auf Instagram. Das ist für so eine komische Metallwarenfabrik hinter den sieben Bergen schon irre (lacht). Darüber hinaus brauchen wir jedoch kaum Werbung, das Nadelgeschäft insbesondere mit den neuen Nadeln ist beinahe ein Selbstläufer, auch, was den Vertrieb angeht. Um ein Beispiel zu nennen: Im vergangenen Jahr habe ich einen neuen Partner in Sydney besucht, und zusammen sind wir ins erste Handarbeitsgeschäft, an dem wir vorbeikamen, hineingegangen. Als ich mich vorstellte und von den neuen Sockennadeln sprach, sagte die Inhaberin „I am waiting for my Trios“. Wir hatten die Frau gar nicht aktiv kontaktiert, sie war durch reine Mundpropaganda auf uns aufmerksam geworden – und das sieben Wochen nach der ersten Vorstellung der Nadeln in Deutschland. Nun stellen Sie das mal dem Aufwand gegenüber, den selbst kleine Aufträge in der Werbeartikelbranche mit sich bringen – da muss man direkt einen ganzen Ordner anlegen, weil jede Werbeanbringung, jede Farbstellung und jede Änderung diskutiert wird. Unser Verkaufsteam im Werbeartikelsegment war genauso groß wie das von addi, obwohl wir mit den Nadeln zuletzt den fünffachen Umsatz gemacht haben. Wenngleich die Arbeit in der Branche immer Riesenspaß gemacht hat, so war sie doch immer sehr aufwendig. Kurios ist, dass meine Eltern vor über 50 Jahren überhaupt erst in den Werkzeugbereich eingestiegen sind, weil sie sich Sorgen um das Stricknadelgeschäft machten. 

Wie kam es damals zu der Entscheidung, neben Stricknadeln auch Werkzeuge herzustellen?

Thomas Selter: In den 1950er Jahren war Stricken eine reine Oma-Geschichte, und meine Eltern befürchteten, dass die Nachfrage nach ihren Produkten mit den Omas aussterben würde. Gleichzeitig herrschte nach dem Krieg ein Riesenbedarf an Werkzeugen – man baute auf und reparierte. Viele Handwerker waren in Gefangenschaft oder gefallen, also nahm man die Dinge selbst in die Hand. Es war relativ einfach, mit unseren Maschinen statt Nadeln Klingen für Werkzeuge herzustellen. Diese haben wir an Griffhersteller geliefert, und so entstanden Werkzeug-Sets für den Einzelhandel. Das Geschäft ist schnell gewachsen, bald waren wir bei vielen Kaufhäusern im Sortiment, z.B. bei Horten, das es damals noch gab.

Wie ging es weiter?

Thomas Selter: Später haben wir eine Kunststoffherstellung aufgebaut und konnten die Werkzeuge damit aus einer Hand liefern. Wir expandierten, auch international. Irgendwann jedoch klopften die ersten Hersteller aus Japan und Taiwan an die Tür und haben uns als deutschen Hersteller, der natürlich preislich nicht mithalten konnte, aus den Kaufhäusern verdrängt. Daraufhin haben wir uns aus dem Retail-Geschäft vollständig zurückgezogen und sind in den B2B-Bereich gegangen.

War der Werbeartikelmarkt Neuland für Sie?

Thomas Selter: Nicht ganz – schon lange waren wir dort mit den Handwerkzeugen aktiv, wir haben über 40 Jahre lang auf der PSI-Messe ausgestellt. Mit dem Rückzug aus dem Einzelhandel haben wir unser Programm jedoch noch stärker an den Bedürfnissen des Werbeartikelmarktes orientiert. Irgendwann suchten wir dann auch selbst den Weg nach Fernost, um Teile unseres Sortiments von dort zu importieren – Klingen und Schraubenzieher kamen irgendwann außer Mode, statt dessen kamen Bits. 

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Alles in Schwarz-Grün: Die 1978 in Zusammenarbeit mit Busse Design lancierte Design-Werkzeugserie setzte Maßstäbe.

Ein Meilenstein der Unternehmensgeschichte war die Designkollektion, die Sie 1978 in Zusammenarbeit mit Busse Design lanciert haben.

Thomas Selter: So eine Produktserie hatte es im Werbeartikelmarkt bis dato nicht gegeben. Wir haben unser gesamtes Programm von der Ulmer Designagentur gestalten lassen und farblich auf Schwarz-Grün umgestellt. Präsentiert haben wir das Ganze erstmals auf der PSI-Messe im Januar 1978 in Düsseldorf – mit durchschlagendem Erfolg: Allein auf der Messe wurden Muster im Wert von 30.000 D-Mark bestellt. Irgendwann jedoch war die Zeit der Designfarben vorbei, was fortan zählte, war die Fähigkeit, Produkte möglichst genau ans Corporate Design der Kunden anpassen zu können. Dann haben wir auf schwarz und grau umgestellt. Änderungen sind offensichtlich unser tägliches Brot.

Ein Zeichen für die Professionalisierung im Markt für haptische Werbung und für einen Sinneswandel bei den Anwendern, die Werbeartikel zunehmend als Werbemedium, weniger als Geschenke wahrnahmen?

Thomas Selter: Sicher. Aber Ansätze für diesen Sinneswandel gab es schon frühzeitig. Während viele Händler noch selbstironisch damit kokettierten, sie würden „Korruptionalien“ verkaufen, gab es andere, die ihre Kunden bereits konzeptionell beraten haben – und zwar mit meiner Unterstützung. Ich habe gemeinsam mit Händlern und deren Kunden viele tolle Konzeptionen entwickelt – inklusive Slogans und Begleitprodukten wie Anschreiben, Reaktionsaktionen und Erfolgsmessung und natürlich den zugehörigen Werbeartikeln. Damit war ich vielleicht der erste Lieferant in unserer Branche, der Konzepte verkauft und dafür Geld bekommen hat. Wo immer es ging, habe ich versucht, mehr über den Industriekunden und sein Kampagnenziel herauszufinden. Später machten das viele so. Damals hat man seine Produkte gezeigt, und das war’s. Ich war auf Hausmessen regelrecht „verschrien“, und keiner wollte neben mir stehen, weil ich mit den Besuchern konzeptionell diskutiert habe. Wenn die bei mir wegkamen, waren die erstmal bedient. (lacht).

Gab es bei so viel Nähe zum Industriekunden nicht gelegentlich Probleme mit dem Werbeartikelhandel?

Thomas Selter: Wir haben nie Direktgeschäfte getätigt. Um die Beratung einerseits strikt vom Lieferantengeschäft zu trennen und andererseits weiter auszubauen, habe ich später die Firma Selter Conzept gegründet, mit der ich auch Händler trainiert und beraten habe, u.a. im Rahmen von Vorträgen und Seminaren. 

Das Image der haptische Werbung nach vorne zu bringen, hatten Sie sich auch als Verbandsfunktionär auf die Fahnen geschrieben – u.a. waren Sie langjähriger Vorstand des BWL (Bundesverband der Werbeartikel-Lieferanten). Wie wichtig ist Verbandsarbeit? 

Thomas Selter: Sie hat für mich einen enormen Stellenwert, das ist ja an meiner Biografie erkennbar – ich habe alles an Verbänden, was mir über den Weg gelaufen ist, „mitgenommen“, auch außerhalb der Werbeartikelbranche. So habe ich u.a. im Präsidium der ASU (Arbeitsgemeinschaft Selbstständiger Unternehmer) mitgearbeitet und war Vorsitzender des BJU (Bundesverband Junger Unternehmer). Doch zurück zu unserer Branche: Wir konnten auf Verbandsebene tatsächlich einiges erreichen, haben auf Parteitagen und in den Gremien auf Bundesebene für unsere Belange gekämpft und uns Gehör verschafft. Allerdings bin ich noch heute der Meinung, dass wir gegen die Einschränkungen beim Einsatz von Werbeartikeln hätten klagen sollen – in einem konkreten Fall ging es um Gleichbehandlung mit der Lufthansa und ihren Prämien.

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Konzeptionelle Beratung, wo andere noch lediglich ihre Produkte vorstellten: Thomas Selter (m) 1988 auf der 2. Ideen-Börse des bwg.

Wie sehen Sie die Verbandslandschaft in der deutschen Werbeartikelbranche heute?

Thomas Selter: Der Einheitsverband ist eine großartige Sache und eine sehr verdienstvolle Leistung meines Nachfolgers Patrick Politze. Ich bin heilfroh, dass das Gezerre zwischen Lieferanten und Händlern weniger geworden ist, dass die ewigen Grabenkämpfe nachlassen.

Ihr Urteil zur Gesamtlage im Werbeartikelmarkt?

Thomas Selter: Es freut mich, dass die haptische Werbung inzwischen immer mehr auf Augenhöhe mit den klassischen Medien kommt, wenngleich wir nach meiner Kenntnis immer noch nicht in den Statistiken zum Gesamtwerbemarkt auftauchen. Der Markt ist für alle komplizierter geworden, die traditionellen Beschaffungsund Vertriebswege haben sich aufgeweicht, aber viele Unternehmen sind offensichtlich sehr zufrieden und wachsen. Insgesamt sehe ich die Marktentwicklungen also positiv, auch wenn für uns in diesem Markt jetzt Schluss ist.

Ihre Produkte allerdings leben weiter und kommen in kompetente Hände: Teile des Sortiments werden fortan von Promowolsch vertrieben. Was hat sie dazu bewogen, Wolfgang Schmidt und sein Unternehmen als „Erben“ auszuwählen?

Thomas Selter: Zunächst einmal schätze ich Wolfgang Schmidt schon seit Langem als Freund und Geschäftspartner. Bereits 2016 hat Promowolsch die Kleinaufträge von uns übernommen und dabei einen guten Job gemacht, jetzt übernimmt er sämtliche Produkte, die wir noch im Sortiment haben und die „made in Germany“ sind. Diese bilden eine gute und passende Ergänzung zu seinem eigenen Portfolio, das ja in Teilen ebenfalls technisch orientiert ist und an ähnlichen Zielgruppen ausgerichtet ist wie unsere Produkte.

Was geschieht mit den Selter-Mitarbeitern?

Thomas Selter: Die werden natürlich von uns übernommen. Es ist ja so, dass fast alle Selter-Leute sowieso vorher schon anteilig für addi tätig waren – wenn nicht, haben wir sie an anderer Stelle eingegliedert. Z.B. brauchten wir aufgrund unseres Wachstums dringend eine weitere Buchhalterin, diese Stelle konnten wir mit einer Kollegin aus dem Selter-Team besetzen. Sorgen um seinen Arbeitsplatz muss sich im Moment hier niemand machen.

Werden Sie den Werbeartikelmarkt vermissen?

Thomas Selter: Und wie! Wir alle haben eine Träne im Knopfloch, und es hat mir immer einen Riesenspaß gemacht, in dieser Branche zu arbeiten. Ich habe tolle Reisen erlebt, viele Freundschaften geschlossen und bleibe der Branche als Beobachter treu, einfach, weil ich an ihr hänge. Ich lese weiterhin aufmerksam die WA-Medien, und auf der kommenden PSI werden wir sicherlich einen Rundgang machen. Wir haben unglaublich viel gelernt bei unserem 50-jährigen Ausflug in die Werbung. Das kommt uns auch bei den Nadeln sehr zugute.

// Mit Thomas Selter sprach Till Barth.

Fotos: Archiv, © WA Media (2); Gustav Selter GmbH (1)

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