Ohne sie stünden Europas Metropolen buchstäblich still: Bus, U-Bahn, Tram & Co. definieren den Alltag von Millionen Einwohnern, prägen das Stadtbild und die Erfahrung ungezählter Besucher und Touristen. Kein Wunder, dass viele Verkehrsbetriebe bei der Markenbildung und Kundenbindung massiv auf haptische Botschafter setzen, um ihr Image buchstäblich zu transportieren. Ein Zukunftsmodell, trotz immenser Verluste in der Corona-Krise.

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Es gibt unzählige Songs über sie, Filme, die in ihnen spielen, oder Bücher, in denen sie eine Rolle einnehmen. Sie sind oft unpünktlich, dreckig und überfüllt, man verbringt unfreiwillig viele Stunden wertvoller Lebenszeit in ihnen – und doch ginge ohne sie gar nichts: Öffentliche Verkehrsmittel bewegen – im wörtlichen wie im bildlichen Sinne. Es gibt wohl kaum eine Metropole, die durch ihren öffentlichen Nahverkehr derart maßgeblich geformt wurde wie London. Laut Transport for London (TfL), der Transportgesellschaft der britischen Hauptstadt, fanden im Geschäftsjahr 2018/19 mehr als 1,3 Mrd. Fahrten allein in der Londoner U-Bahn statt. Die „Tube“ ist nicht nur das älteste Untergrundnetz der Welt – mit dem Metropolitan Railway ging bereits 1863 die erste Linie in Betrieb –, sondern verfügt gleichzeitig über das wohl markanteste Branding. Das 1919 eingeführte rote „Underground“-Logo, das die Londoner „roundel“ nennen, ist weltbekannt, ebenso wie der markante Liniennetzplan, der der „Tube“ ihren Namen gibt und 2012 in einer Umfrage von BBC und London Transport Museums zum zweitbeliebtesten britischen Design gekürt wurde.

Und während viele Metropolen noch damit beschäftigt waren, überhaupt erst einmal einen öffentlichen Nahverkehr aufzubauen – Madrid nahm 1919, München gar erst 1972 die erste U-Bahn in Betrieb –, machte man sich an der Themse bereits Gedanken um einen konsistenten Markenauftritt: Mit der Johnston Monotype entstand 1916 die charakteristische, serifenlose Schrift, in der die Londoner Verkehrsmittel bis heute sämtliche Kommunikation setzen – von Stations- und Hinweisschildern über Plakate und Liniennetze bis hin zu Printmedien und Webauftritten. Es wundert nicht, dass die Londoner Verkehrsbetriebe, die seit 2000 unter der Dachorganisation TfL geführt werden, seit vielen Jahrzehnten auch in Sachen Merchandise aktiv sind. Für viele Transportunternehmen war und ist London ein Benchmark, was die Vermarktung angeht.

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Von Vintage-Unikaten über Möbel mit Sitzmuster bis zu einem der größten Posterarchive der Welt: Der Shop von Transport for London und dem London Transport Museum setzt Benchmarks.

„London Transport und sein Vorgänger, die Underground Group of Companies, verkauften ab den 1920er Jahren Plakate und große Karten an die Öffentlichkeit”, so Mike Walton, Head of Trading des the London Transport Museum. „Die ersten vorsichtigen Versuche mit Merchandising begannen in den 1960er Jahren und nahmen Mitte der 1970er Jahre zu, als man feststellte, dass viele Anbieter billige Souvenirs mit Underground-Motiven verkauften, ohne dass das Transportunternehmen davon finanziell profitierte.” Heute sind Souvenirs mit den London Underground- Signets in der Stadt omnipräsent und zählen zu den beliebtesten Mitbringseln, an deren Verkäufen TfL mitverdient. Aktuell unterhält das Unternehmen Verträge mit rund 80 Lizenznehmern, die rund 800.000 Pfund (ca. 874.000 Euro) jährlich in die Kasse und damit in den Unterhalt des Streckennetzes spülen. Rund 2,9 Mio. Pfund (ca. 3,17 Mio. Euro) und damit rund 7% mehr als im Geschäftsjahr zuvor entfielen zudem im Geschäftsjahr 2018/19 auf die wichtigsten Touchpoints: Dies sind zum einen der gemeinsame Onlineshop, den TfL und sein Tochterunternehmen London Transport Museum betreiben. Eine weitere wichtige Rolle spielt der stationäre Shop im London Transport Museum in Covent Garden, der immer wieder als herausragendes Beispiel für einen gelungenen Museumsshop gewürdigt wird.

Sofas, Sneaker, E-Gitarren

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2016 feierte das London Transport Museum den 100. Geburtstag der Johnson Monotype. Dabei entstand u.a. ein Nike Air Zoom Spiridon x Roundel, der die identitätsstiftende Typo des Londoner Nahverkehrs neu interpretiert.

Wie ein roter Faden ziehen sich eigene Designs und spektakuläre Produktentwicklungen durch das Portfolio des Shops, viele davon, so Walton, „nicht nur marktgesteuert, sondern an den Initiativen von TfL orientiert“ – d.h., wenn ein neuer Bus ans Netz geht, entwickelt das Museum passende Produkte. Das London Transport Museum verfügt zudem über eines der größten Posterarchive der Welt mit über 5.000 Postern, die seit dem 150. Geburtstag der Tube im Jahre 2013 als Reproduktionen erhältlich sind. Ausgefallener – und deutlich kostspieliger – sind Vintage-Unikate wie Buchregale aus ausrangierten Gepäckfächern der Metropolitan Line oder ein mit Moquette, dem charakteristisch gemusterten Sitzmaterial, bezogenes Sofa, das für 1.760 Britische Pfund (ca. 1.900 Euro) den Besitzer wechselt. Abseits solcher Nischenprodukte gehören preiswertere Moquette-Artikel – von der Tasche übers Geschenkpapier bis zum Kissen – zu den beliebtesten Produkten des Shops. Viele spektakuläre Produktentwicklungen werden aus aktuellem Anlass geboren – so entstand anlässlich der vom London Transport Museum kuratierten Ausstellung „Transported by Design“, die 2015 in der Underground-Station St. John’s Wood zu sehen war, eine Fender Stratocaster als Sonderedition mit aufgedruckter Tube-Karte. Den 100. Geburtstag der identitätsstiftenden Johnson Monotype im Jahr 2016 wiederum feierten TfL und das London Transport Museum u.a. mit dem Nike Air Zoom Spiridon x Roundel: Als eine von mehreren Kooperationen zwischen dem Transportunternehmen und Nike schlug der Sneaker den Bogen zwischen historischem Erbe und zeitgenössischem Street Style und spiegelte so die tiefe Verbindung der Londoner mit ihren öffentlichen Verkehrsmitteln wider.

Jugendstil, Hasen und gelbe Tickets

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Mit einer Reihe launiger Musikvideos, die das charakteristische gelbe Pariser Ticket in Szene setzte, warb die „Ticket Chic/Ticket Choc“-Kampagne in den 1980-ern für den Nahverkehr als „Zweites Auto“. Die RATP La Ligne-Kollektion zitiert die Kampagne mit mehreren Produkten.

Wie sehr Transportmittel eine Großstadt und die Wahrnehmung ihrer Bewohner prägen, weiß man auch bei der RATP (Régie autonome des transports Parisiens). Der staatliche Betreiber des ÖPNV in der französischen Hauptstadt befördert jährlich etwa 3 Mrd. Fahrgäste im Großraum Paris. Wie TfL setzt auch die RATP bei ihrem Merchandising auf das Erbe des Stadtnetzes. Was den Londonern ihr Underground-Roundel, sind den Parisern – und den Besuchern der Stadt – die im Jugendstil gestalteten Eingangsschilder zur Métro oder die charakteristischen Tickets aus gelbem Karton. Letztere erhielten spätestens seit der „Ticket Chic/Ticket Choc“-Kampagne und dem dazugehörigen Song und Musikvideo aus den 1980ern Popkulturstatus, auch eine erste Linie mit haptischen Werbeträgern entstand seinerzeit. Bekannte Designs aus mehreren Jahrzehnten RATP-Geschichte standen Pate für die „RATP La Ligne“-Kollektion, die 2019, anlässlich des 70. Geburtstags der RATP, lanciert wurde und über einen eigenen Onlineshop vertrieben wird. „Mit seiner 70-jährigen Präsenz in der Ile-de-France feiert RATP ein emblematisches Jubiläum seiner Geschichte, das wir natürlich mit unseren Reisenden teilen wollten“, erklärt Anaïs Lançon, Communication Director der RATP. „Jeder kann in dieser städtischen Linie ein Stück des kollektiven Erbes finden.“ Neben Objekten im Stil der von Hector Guimard gestalteten „Metropolitain“-Schilder finden sich u.a. T-Shirts mit „Ticket Chic/Ticket Choc”-Motiven, Drinkware mit RATP-Logos vergangener Dekaden oder Produkte mit Serge, dem Hasen in der Kollektion. Ungezählte Pariser wuchsen mit der Comicfigur auf, die Kinder über Gefahren in der U-Bahn aufklärt.

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„Serge, der Hase“: Die RATP La Ligne- Kollektion feiert das kollektive Erbe von Métro und Co.

„Die RATP-Marke ist seit 1949 in Paris und Umgebung präsent, und viele Fahrgäste sind mit ihr aufgewachsen“, erklärt Song Phanekham, verantwortlich für den RATP La Ligne-Store. „RATP la Ligne ist vor allem ein Kommunikationsprojekt, das darauf abzielt, die Marke RATP und die emotionale Bindung der Fahrgäste durch die berühmtesten aktuellen und historischen RATP-Symbole zu stärken. Die Boutique ist auch eine Möglichkeit für die RATP, ihr Erbe zu verwalten, indem sie die Konzeption und das Design der Produkte überwacht. Die Sammlung wird regelmäßig um neue Artikel erweitert.“ Erklärtes Ziel ist es dabei, Erinnerungen in die Jetztzeit und den Alltag zu transportieren – Straße statt Museum: „Wir möchten die Marke RATP durch modische Objekte kommunizieren, die eine zeitgemäße Interpretation darstellen – im Gegensatz zu einer institutionellen Repräsentation“, ergänzt Phanekham. Zwar gebe es, so der Shopleiter, nach einem Jahr noch keine belastbaren Zahlen, doch sei das Feedback bislang gut: „Die Boutique ist erfolgreich und erreicht ein breites, mode- und designaffines Publikum, weit über ‚Transportenthusiasten‘ hinaus. Selbst in Publikumszeitschriften werden die Produkte gefeatured.“

Pandemische Vollbremsung

Doch auch, wenn viele Pariser „ihre“ Öffis schätzen – benutzen wollte oder konnte sie in diesem Jahr so mancher nicht. Corona hat den öffentlichen Nahverkehr hart getroffen: So meldete die RATP für das erste Halbjahr 2020 einen Umsatzrückgang von 224 Mio. Euro aufgrund der Corona-Krise. In London fiel die Zahl der Tube-Nutzer zeitweise um 95%, die der Busreisenden um 85%, und dem London Transport Museum fehlten 80% seiner Einnahmen, nachdem es seine Türen schließen musste – ein Minus von 1,5 Mio. Pfund (ca. 1,65 Mio. Euro) war die Folge von mehreren Monaten ohne Besucher. Trotz dieser gravierenden Schieflage freilich kann keine Großstadt auf ihre öffentlichen Verkehrsmittel verzichten, deshalb bleiben Bus, Bahn und Co. ein Zukunftsmodell. Haptische Werbung trägt zur Identitätsstiftung sowie zur Kunden-, sprich: Fahrgastbindung, bei. Und dies beileibe nicht nur in London oder Paris, sondern auch in vielen anderen Metropolen der Welt.

// Till Barth

Bildquelle: John Phillips/PA Wire (1); London Transport Museum (2); RATP/Alexandre de Cadoudal (2)

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