Mit dem Ende der Brexit-Übergangsphase liegt seit Anfang des Jahres eine Zollgrenze zwischen der EU und Großbritannien. Die daraus resultierende Bürokratie stellt die pan-europäischen Lieferketten und das Verhältnis zwischen Handelspartnern dies- und jenseits des Ärmelkanals vor eine Zerreißprobe. Daran ändert auch das in letzter Minute vereinbarte Handelsabkommen wenig. Die WA Nachrichten haben mit britischen und anderen europäischen Werbeartikelplayern über die neue Realität gesprochen.

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Boris Johnson ist kein Politiker, der für demonstrative Bescheidenheit oder Understatement bekannt wäre. Und so fielen auch die Worte markig aus, mit denen der britische Premierminister das Handels- und Kooperationsabkommen zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich einleitet, das am 24. Dezember 2020, nach endlosen, zähen Verhandlungen endlich erzielt und am 30. Dezember seitens der EU unterzeichnet wurde: „Nächstes Jahr wird unsere Gelegenheit sein, zu zeigen, was das globale Großbritannien leisten kann, um uns als liberale Freihandelsnation und als Kraft für das Gute in der Welt zu behaupten”, heißt es dort im Vorwort, und: „Ich hoffe sehr, dass dieser Vertrag, der im Selbstverständnis Großbritanniens als stolzes europäisches Land verwurzelt ist, dazu beitragen wird, die Menschen zusammenzubringen.“ Zurzeit stellt sich die Lage im Vereinigten Königreich und an der Grenze zur EU allerdings ganz anders dar. Seit dem Ende der Übergangsphase am 1. Januar 2020 ist Großbritannien endgültig aus der EU ausgeschieden, und wo zuvor Waren wie überall in der EU passieren konnten, ist nun eine Grenze – die Folgen: Lange LKW-Staus an den Grenzübergängen zum Jahresbeginn, massive Lieferverzögerungen und ein enormer bürokratischer Aufwand. Die wirtschaftlichen Auswirkungen machten sich unmittelbar bemerkbar: Laut Eurostat sanken die EU-Exporte nach Großbritannien im Januar um 27,4% im Vergleich zum Vorjahresmonat, die britischen Ausfuhren nach Europa sogar um 59,5%. 

Fehlstart

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Lange Lkw-Staus an den Grenzen sorgten besonders zum Jahresbeginn für massive Lieferverzögerungen.

Dieser massive Einbruch ist z.T. darauf zurückzuführen, dass viele Akteure schlichtweg zu wenig Zeit hatten, um sich ausreichend auf den Tag X vorzubereiten. Bis zuletzt waren zu viele Fragezeichen offen geblieben, trotz einjähriger Übergangsfrist mit zunächst noch „normalem“ Warenverkehr. „Angesichts all der Unsicherheit und mangelnder Details konnte sich niemand richtig auf das Ergebnis des Brexit vorbereiten“, berichtet Prama Bhardwaj, CEO und Gründerin des Londoner Textilunternehmens Mantis World. „Das Handelsabkommen zwischen Großbritannien und der EU wurde so spät abgeschlossen, dass Unternehmen, Beratern, Logistikunternehmen und staatlichen Finanzbehörden zu wenig Zeit blieb, um die Auswirkungen und Anforderungen ausreichend zu verstehen. Dies führte zu Beginn des Jahres auf beiden Seiten zu Chaos.“ Für britische Unternehmen, die mit der EU Handel treiben, waren deshalb die letzten Monate eine enorme Herausforderung. „Es war von Anfang an sehr schwierig“, so Adrian Zralka, Managing Director von Eco Promo. „Wir haben versucht, uns so gut wie möglich vorzubereiten, mit Handelsrechnungen, EORI- und Warennummern – so, wie es die Logistikunternehmen empfohlen hatten. Aber nach über drei Monaten scheint es, dass all die Vorbereitung keine großen Auswirkungen auf die Geschwindigkeit hat, mit der unsere Waren bearbeitet und in die EU geliefert werden.“

Denn der größte Flaschenhals liegt in der Logistik und der Abfertigung an der Grenze. Viele Spediteure waren auf die neue Situation nicht annähernd ausreichend vorbereitet und befinden sich zudem noch in wirtschaftlicher Schieflage. „Jetzt, wo wir wissen, was passiert und uns mit den zuständigen Behörden arrangiert haben, ist die Zusammenarbeit und Kommunikation mit den Lager- und Logistikdienstleistern unsere größte Herausforderung“, berichtet Mike Oxley, CEO der Werbeartikelagentur Prominate UK. „Viele von ihnen stecken tief im Brexit- und COVID-19-Schlamassel.“ „Wir haben schnell gemerkt, dass die Experten auf diesem Gebiet auch nicht schlauer sind und nicht mehr Informationen haben als wir“, ergänzt Bhardwaj. „In den letzten Monaten haben wir dank des branchenübergreifenden Wissensaustauschs mehr über den grenzüberschreitenden Warenverkehr erfahren. Dies kann jedoch auf Dauer nicht der effizienteste Weg für den Handel Großbritanniens mit seinem größten Handelspartner sein.” Natürlich stehen auch Lieferanten aus der EU vor Herausforderungen, die ihre Ware wie bisher an ihre britischen Kunden schicken wollen. Patrik Kaiser, Sales Export Manager beim deutschen Süßwarenlieferanten Kalfany Süße Werbung, berichtet: „Die Auswirkungen des Brexit sind speziell in der Logistik spürbar. Es herrscht eine große Unsicherheit auch auf britischer Händlerseite zu den Abläufen in der Zollabwicklung. Mit Fragen zu Verzögerungen in der Lieferung und Zusatzkosten durch die Zollabwicklung tun wir uns selbst noch schwer, da auch wir erst die ersten Erfahrungen sammeln. Ein Problem, das sich zudem aktuell für uns als Lieferant von essbaren Werbemitteln stellt, ist, dass viele britische Speditionen aktuell keine Lieferung von Lebensmitteln akzeptieren.“

Die Grenzen der Freiheit

Das Handels- und Kooperationsabkommen ist ein Kompromiss, der aus Sicht vieler Betroffener den Warenaustausch nicht signifikant erleichtert. So wurde vereinbart, dass auf Waren, die aus dem Vereinigten Königreich oder der EU stammen, keine Einfuhrzölle und Quoten erhoben werden. Eine Regelung, die für weite Teile des Werbeartikelmarktes und viele andere Sektoren mit global verzweigten Lieferketten jedoch irrelevant ist – wenn Briten Waren von europäischen Importeuren kaufen – oder umgekehrt –, stehen Zölle an: „Das ‚Freihandelsabkommen‘ gilt nur für Waren, die in Großbritannien hergestellt und in die EU exportiert werden oder umgekehrt. Alle Produkte, die in Drittländern hergestellt wurden, werden beim Versand über die Grenze mit Zöllen belegt. Die meisten Werbeartikel werden in Übersee produziert, v.a. in Asien, und das hat einen großen Einfluss auf die Preisgestaltung“, erklärt Bhardwaj. „Es stehen z.T. erhebliche Zölle an – 12% auf die meisten Bekleidungsartikel. Das ist insofern ein besonders großer Schlag, da unsere Herkunftsländer – Tansania, Bangladesch und Pakistan – allesamt Entwicklungsländer sind, die ihre eigenen separaten zollfreien Abkommen sowohl mit der EU als auch mit Großbritannien haben. Das spielt jedoch keine Rolle – wenn wir dieselben Waren über die Grenze zwischen der EU und Großbritannien versenden, müssen Zölle gezahlt werden.“ Oxley ergänzt: „Bei Waren, die in Europa hergestellt werden, gibt es nur begrenzte Auswirkungen auf Importe ins Vereinigte Königreich. Für Produkte, die in Europa auf Lager sind und in Asien hergestellt wurden, fallen manchmal zusätzliche Kosten und Papierkram an, was für britische Kunden Auswirkungen auf die Lieferzeiten und das verfügbare Angebot hat. Bei Exporten haben wir eine komplexe Situation und müssen z.T. auf Lagerhaltung in Europa zurückgreifen sowie Verzögerungen bei der Verschiffung und zusätzliche Kosten für einige in Asien hergestellte Artikel in Kauf nehmen. Das bedeutet für unsere Kunden zusätzliche Komplexität und generell eine Trennung und unterschiedliche Herangehensweisen für Großbritannien und die EU.“

Doch selbst Unternehmen, die in Großbritannien produzieren, stehen vor der Frage, ob und wenn ja, wie sie ihr Business auf dem Festland weiterführen sollen, gleiches gilt in umgekehrter Richtung. Mediales Aufsehen auf beiden Seiten der europäisch-britischen Grenze erregte z.B. der Fall des englischen Käseproduzenten Cheshire Cheese Company, der bis Ende 2020 einen florierenden Versandhandel mit europäischen Kunden unterhielt und jetzt für jede Warensendung 180 Pfund (ca. 200 Euro) für das erforderliche Gesundheitszertifikat hinblättern soll – selbst dann, wenn der Wert des versendeten Pakets erheblich unter dieser Summe liegt.

Berge von Papierkram

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Trotz zahlreicher Kampagnen, die zur Vorbereitung auf den Brexit aufriefen, hatten viele Akteure das Gefühl, dass sie aufgrund mangelnder staatlicher Unterstützung nicht ausreichend vorbereitet waren.

Ganz gleich, wo und mit welcher Fertigungstiefe eine Ware hergestellt wurde – der bürokratische Aufwand für den Im- und Export und die daraus resultierenden Kosten sind enorm. Zwar verspricht das Abkommen für einzelne Produktgruppen – darunter Autos, Wein oder Medikamente – vereinfachte Formalitäten. Doch Sektoren mit einer komplexen Wertschöpfung wie die Werbeartikelbranche haben davon wie so häufig nichts. Stattdessen stehen eine Vielzahl neuer Regularien an, durch die sich jeder wälzen muss, der weiterhin über den Ärmelkanal hinweg handeln will. So galt es z.B., die Ursprungsregeln (Rules of Origin) für alle Produkte, die man vertreibt, neu zu dokumentieren. Anhand dieser Ursprungsregeln können Unternehmen auch ableiten, ob sie in den Genuss der im Handelsabkommen definierten Freihandelsprivilegien kommen. „Die Ursprungsregeln sind ein schwieriges Thema, und es war nicht einfach, alle Auswirkungen auf unseren Handel und unser Geschäft zu verstehen“, so Zralka. „Wir haben es jedoch geschafft, für alle unsere Produkte Warennummern und Herkunftsländer zu bestimmen. Generell haben wir immer versucht, unsere Produkte aus dem Vereinigten Königreich oder der EU zu beziehen, und ich denke, das wird uns auch in Zukunft gute Dienste leisten.“ Unabdingbar war es zudem, sich rechtzeitig eine neue britische oder europäische EORI-Nummer (Economic Operators Registration and Identification) zu beschaffen. Seit dem 1. Januar 2021 nämlich haben britische EORI-Nummern ihre Gültigkeit in der EU verloren, und EORI-Nummern, die in einem der EU-Mitgliedstaaten erteilt wurden, sind in Großbritannien nicht mehr gültig. Ein wahrer Irrgarten ist die Klassifizierung und Kategorisierung des eigenen Warenportfolios. Denn jeder Artikel muss mit einem eigenen Code versehen werden, der sich nach Material, Beschaffenheit und Einsatzweck eines Produktes richtet.

Wie kompliziert sich das gestalten kann, sieht man am Beispiel von Kunststoffprodukten: Für jedes Polymer gibt es einen eigenen Code, Im- und Exporteure müssen jedoch auch die Form, Charakteristik, Funktion und zugrundeliegende Herstellungsmethode ihrer Produkte in Betracht ziehen. Etliche Kunststoffprodukte jedoch werden nicht über diese Systematik kategorisiert, sondern fallen unter andere Tarifregelungen, darunter Textilien, Schuhe, Headwear, Schirme, Modeschmuck, Lampenschirme, Spielzeug oder Bürsten. Wiederum andere Regularien gelten für Sets mit verschiedenen Produkten – keine Seltenheit im Werbeartikelmarkt: „Wenn Waren als Sets präsentiert werden, bestehend aus zwei oder mehr separaten Artikeln, die unter verschiedene Klassifizierungscodes fallen können, sollten sie unter dem Code eingereiht werden, der die Hauptfunktion des Sets darstellt“, heißt es in den Bestimmungen der britischen Zollbehörden. Klingt kompliziert? Ist es auch. „Es dauert, bis man alle Klassifizierungen korrekt ermittelt hat“, so Bhardwaj. „Einmal ausgefüllt, müssen sie nicht mehr nachbearbeitet werden. Allerdings erweist sich die Eingabe der Warennummern zusammen mit allen Informationen, die für die Zollabfertigung erforderlich sind, als wahnsinnig zeitaufwändige manuelle Aufgabe.“ Hat man dies alles unter Dach und Fach, steht als nächstes die Versteuerung an. Denn das Vereinigte Königreich ist nicht mehr an die gemeinsame Mehrwertsteuersystem-Richtlinie oder an die EuGH-Rechtsprechung gebunden und muss demnach Höchst- oder Mindestumsatzsteuersätze nicht einhalten. Gleichzeitig hat Großbritannien keinen Einfluss mehr auf die Entwicklung des Umsatzsteuersystems. Der EU-Austritt hat daher besonders im Bereich der Umsatzsteuer umfassende Änderungen zur Folge, denn das EU-Umsatzsteuerrecht basiert auf dem gemeinsamen Mehrwertsteuersystem der EU, das nunmehr für das Vereinigte Königreich nicht mehr gilt. Zudem gibt es inzwischen unterschiedliche gesetzliche Vorgaben, was Produktsicherheit und Co. angeht. Auch, wenn sich die Richtlinien de facto kaum unterscheiden, so muss die Konformität doch entsprechend einzeln zertifiziert werden. Doppelter Aufwand steht auch für die obligatorische Konformitätskennzeichnung ins Haus: Zum 1. Januar 2022 wird innerhalb des Vereinigten Königreichs das UKCA-Label das innerhalb der EU gültige CE-Zeichen ersetzen.

Was folgt

All das wirkt sich natürlich auf die Lieferzeiten aus. „Teilweise steckten Waren mehrere Wochen in Zolleinrichtungen verschiedener Länder fest, ohne dass es eine Erklärung gab, warum“, so Zralka. „Insgesamt kommen die zügigen Lieferzeiten von zwei bis drei Werktagen auf absehbare Zeit nicht zurück. Das gilt für beide Richtungen – es sei denn, wir haben uns bald alle an die neuen Bedingungen gewöhnt.“ Bhardwaj ergänzt: „Für den Transport von Waren aus Großbritannien in die EU haben wir anfangs einen Monat gebraucht, weil die Spediteure mit der Nachfrage überfordert waren und die Arbeitsbelastung durch die Zolländerungen gestiegen ist. Inzwischen verstehen wir alle den Prozess besser, und es ist unkomplizierter geworden, aber immer noch eine administrative Belastung. Einige Länder scheinen einfacher zu beliefern zu sein als andere – es dauert z.B. immer noch einen Monat, um Lieferungen nach Spanien zu bekommen.“ Es erübrigt sich zu sagen, dass Unternehmen irgendwann nicht mehr umhinkommen, die massiven Mehrkosten, die sie aufgrund des hohen bürokratischen Aufwands, gestiegener Steuersätze, Zollabgaben und Gebühren für Zertifikate und Bescheinigungen haben, an ihre Kunden weiterzugeben. „Die Preise für alle Produkte steigen in einem Bereich zwischen 1 und 10%“, so Oxley, und Zralka ergänzt: „Die Kosten sind natürlich gestiegen, vor allem für britische Hersteller, die einige Teile für ihre Waren aus der EU importieren. Einige dieser zusätzlichen Kosten mussten wir leider weitergeben. Wir haben versucht, die Preise zu halten, um wettbewerbsfähig zu bleiben, aber es gibt bestimmte Artikel, bei denen eine deutliche Erhöhung unvermeidlich war.“

Die große Gefahr, die in letzter Konsequenz hinter den gesammelten Hürden lauert, die der Brexit dem paneuropäischen Werbeartikelbusiness vor die Füße wirft, ist natürlich, dass Geschäftsbeziehungen leiden oder sogar ganz eingestellt werden. „Die größte Herausforderung besteht darin, die europäischen Kunden an Bord zu halten und ihnen alle Prozesse zu erklären, da einige von ihnen noch nie Waren aus Drittländern importiert haben“, so Zralka. „Das ist ein schwieriges Thema, da die Vorlaufzeiten, die Bürokratie und die Kosten gestiegen sind und es keine Vorteile gibt, die aus dem Brexit resultieren. Verständlicherweise fragen sich die europäischen Kunden, ob es den Aufwand wert ist, mit einem britischen Lieferanten zu arbeiten.“ Das ist natürlich auch in umgekehrter Richtung der Fall, wie Kaiser beobachtet: „Aufgrund der ungewissen Situation bei der Lieferung nach Großbritannien präferieren britische Händler im Moment ganz klar inländische Lieferanten. Aber das wird sich mit der Zeit und den ersten Erfahrungen mit erfolgreichen Lieferungen wieder ändern.“ Was hilft, sind enge Kommunikation und gute Kundenbeziehungen, wie Bhardwaj anführt: „Wir informieren unsere EU-Vertriebspartner regelmäßig über den Status von Lieferungen und den Stand der Dinge bei Prozessen – mit Transparenz, Ehrlichkeit und so viel Klarheit, wie wir unter den gegebenen Umständen geben können. Wir haben offen über die Herausforderungen gesprochen, die wir gemeistert haben, und über das, was wir noch bewältigen müssen, und sind unglaublich dankbar für die Geduld, die Unterstützung und das Verständnis, das alle unsere EU-Distributoren uns entgegengebracht haben.“

Präsenz auf dem Kontinent

Ein vielversprechender Lösungsansatz, den viele UK-Unternehmen aktuell verfolgen, ist die Errichtung einer Niederlassung oder zumindest eines Logistik-Hubs auf dem Festland. Mantis World z.B. verfolgt diese Strategie, wie Bhardwaj berichtet: „Wir unterhalten über einen Logistikpartner ein Warenlager in Deutschland und haben eine deutsche Firma gegründet, um den Handel mit unseren EU-Partnern zu erleichtern. Das hat erhebliche Vorteile, wir können jetzt tatsächlich schneller in die EU liefern als vor dem Brexit.“ Auch Eco Promo setzt auf eine Präsenz auf dem europäischen Festland, um sein EU-Business zu sichern: „Wir bauen derzeit ein Büro in Mitteleuropa auf, um unser bestehendes europäisches Geschäft zu erhalten und auch die Möglichkeit zu haben, in naher Zukunft innerhalb der EU zu wachsen“, so Zralka. „Dies von Großbritannien aus zu versuchen, wäre mit all den erwähnten Hindernissen sehr schwierig.“ Oxley, der als Händler mit Lieferanten von beiden Seiten der Grenze arbeitet und zudem sowohl Kunden aus dem Vereinigten Königreich als auch aus der EU beliefert, ist der Meinung, dass „der paneuropäische Handel zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU aufgeteilt wird. Die Budgets werden zwischen Großbritannien und der EU gesplittet, und die Arbeitsweise wird sich ändern müssen. Wir haben einige Lieferanten ausgetauscht und kaufen jetzt bei EU-Lieferanten für EU-Kunden und umgekehrt, aber produktseitig gab es nur wenig Veränderungen. Die Dinge müssen sich jedoch noch einpendeln, wenn sich die Pandemielage beruhigt hat.“

Und dann auch noch Corona

Denn die andauernde Pandemie führt zu Verzerrungen, laufen doch die wirtschaftlichen Aktivitäten in ganz Europa nach wie vor noch mehr oder weniger auf Sparflamme, sodass es schwierig zu erkennen ist, ob Rückgänge Brexit- oder Corona-bedingt sind. Darüber hinaus, so Zralka, „verschlechtert Corona die Bedingungen, unter denen man versucht, Geschäfte zu machen und zu wachsen, massiv. Der Brexit an sich ist für die meisten Unternehmen, die mit der EU Handel treiben, schon schlimm genug. Eine so große Veränderung schultern zu müssen, während man gleichzeitig einen der schlimmsten wirtschaftlichen Abschwünge der jüngeren Geschichte durchmacht, ist ein heftiger Schlag für unseren Handel und die britische Wirtschaft als Ganzes.“ Colin Loughran, Managing Director des irischen Schreibgerätespezialisten Goldstar, beurteilt die Lage aus Sicht der EU: „Die Exporte des britischen Kerngeschäfts von Goldstar gingen im letzten Jahr im Vergleich zu unseren anderen Kernmärkten deutlich zurück – etwa um das Dreifache –, was jedoch eher auf das Coronavirus als auf den Brexit zurückzuführen ist.“ Was den Brexit angeht, hat das irische Unternehmen eigener Aussage zufolge keine Probleme: „Abgesehen von anfänglichen Kinderkrankheiten bei der Zollabfertigung läuft seit Monaten alles relativ reibungslos. Für Standardsendungen haben wir einen zusätzlichen Tag als Puffer eingeplant, aber es scheint nun, als sei dieser möglicherweise nicht notwendig. Express-Sendungen werden immer noch innerhalb von ein bis zwei Tagen zugestellt, wobei wir für 80 bis 90% unserer Ziele in Großbritannien maximal 24 Stunden brauchen.“ Vom Hauptsitz im irischen Dundalk aus verschifft Goldstar seine für britische Kunden bestimmte Ware über die irische Hauptstadt in Richtung Wales, wie Loughran erklärt: „Unsere Sendungen sind schon immer über Dublin nach Holyhead gegangen. Seit dem Brexit deklarieren wir die Waren einfach vor dem Versand, indem wir eine Handelsrechnung einreichen. Unsere Speditionspartner bereiten vor der Abfahrt einen Exportzolleintrag vor, wodurch die Waren schnell als eine einzige Massenabfertigung pro Sendung abgefertigt werden können.“

Sonderfall Nordirland

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Nach Meinung vieler Marktteilnehmer wird es noch lange dauern, bis sich Routine an der neuen Grenze etabliert hat.

Unternehmen, die ihre Ware anders als Goldstar über die nordirische Grenze schicken, fallen unter eine Sonderregelung, die die Integrität des EU-Binnenmarktes wahren soll. Gleichzeitig stellt das Austrittsabkommen sicher, dass es keine Kontrollen an der Grenze zwischen Irland und Nordirland gibt und das Karfreitags-Abkommen vollständig gewahrt bleibt. Nordirland bleibt Teil des britischen Zollgebiets, aber alle relevanten Binnenmarktregeln der EU sowie der EU-Zollkodex finden in Nordirland Anwendung, wobei die notwendigen Kontrollen und Zollerhebungen in den nordirischen Häfen stattfinden. Eine Regelung, die in der historisch sensiblen Provinz nicht nur politische Spannungen – Ende April kündigte die nordirische Regierungschefin Arlene Foster ihren Rücktritt an –, sondern leider auch bereits gewalttätige Ausschreitungen zur Folge hatte. „Es gibt kein Geschäftsrisiko für Goldstar“, versichert Loughran, erklärt jedoch weiter: „Meine Sorgen bezüglich der Ereignisse in Nordirland sind persönlicher Natur: Ich bin dort aufgewachsen, meine Familie und Freunde leben dort. Es ist immer besorgniserregend, wenn Jugendliche auf der Straße randalieren – das hat Eskalationspotenzial, wenn man nicht dagegen vorgeht, besonders in Nordirland. Ich bin jedoch zuversichtlich, dass die EU und das Vereinigte Königreich einen Mittelweg bei den letzten noch offenen Fragen finden werden.“ Und Nordirland ist nicht die einzige Region, in der es infolge des Brexit zu Konflikten kommt, siehe die Konfrontation zwischen französischen Fischern und britischer Marine vor der Insel Jersey Anfang Mai.

Offene Fragen

Wie also geht es weiter mit der britischen Wirtschaft und den bisher vielfältigen Beziehungen zwischen britischen und kontinentalen Unternehmen? Eine auch nur annähernd zutreffende Prognose zu stellen scheint aktuell fast unmöglich. „Es ist schwer, in diesen unsicheren Zeiten kurzfristige Vorhersagen zu treffen, und wir werden die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen vielleicht erst einige Zeit später wirklich erkennen“, meint Bhardwaj. „Das britische Impfprogramm war bisher ein Erfolg, und wir erwarten einen wirtschaftlichen Aufschwung, da sich das Land in einem beschleunigten Tempo öffnet. Allerdings ist der Brexit nur ein Aspekt unter vielen, die für Preisanstiege sorgen: Die Kosten für Rohstoffe und Container sind gestiegen, ebenso wie andere Kosten innerhalb der Lieferketten. Es wird auch schwierig sein, die wirtschaftlichen Auswirkungen des Brexit von den Effekten der Pandemie zu entkoppeln. Ob die Preisanstiege aufgefangen werden können, hängt von der Stärke der zugrundeliegenden wirtschaftlichen Größen wie dem BIP-Wachstum, der Beschäftigung und den Zinssätzen ab sowie davon, wie lange die Unterstützungsprogramme der Regierung andauern werden.“

Immerhin ist der Wille, das Business auch grenzüberschreitend weiterzuführen, bei vielen Marktplayern da. „Wir schränken unsere Aktivitäten in Großbritannien nicht ein und möchten weiterhin ein loyaler Partner für unsere langjährigen und guten Kunden dort sein“, so Kaiser. „Wir sind auch überzeugt, dass wieder reibungslos nach Großbritannien geliefert werden kann, sobald sich die Zollabwicklung eingespielt hat. Das funktioniert ja auch mit anderen Ländern wie z.B. der Schweiz.“ Doch angesichts der immensen Schäden, die der Brexit dem paneuropäischen Handel bereits jetzt zugefügt hat, ist es leider wahrscheinlich, dass das EU-UK-Business insgesamt kleiner werden wird – v.a. für britische Lieferanten. „Ich glaube, die Dinge werden sich beruhigen und es wird eine ‚neue Normalität‘ für den Handel zwischen der EU und Großbritannien geben“, so Zralka. „Langfristig denke ich jedoch, dass viele EU-Lieferanten und Kunden aufgrund geringeren Papierkrams, einfacherer Prozesse und niedrigerer Kosten künftig lieber Produkte aus der EU beziehen werden. Es gibt einen guten wirtschaftlichen Grund, warum Länder Freihandelsabkommen normalerweise lieber beitreten, anstatt sie zu verlassen.“

Worin nochmal sollte der Sinn des Ganzen liegen? – das fragen sich inzwischen sicher auch viele, die vor fünf Jahren ihr Kreuz bei „Leave“ gemacht haben. Von den Ankündigungen und Vorstellungen Boris Johnsons zu einer Zukunft nach dem Brexit jedenfalls ist die Realität auf beiden Seiten der neuen Grenze weit entfernt.

// Till Barth

Interview mit Carey Trevill, CEO des BPMA (British Promotional Merchandise Association)

Anfang Januar endete die Brexit-Übergangsperiode. Wie ist derzeit die Stimmung unter den BPMA-Mitgliedern, und wie haben Sie selbst die letzten vier Monate erlebt?

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Carey Trevill:

Carey Trevill: Mit dem Jahresbeginn standen britische Händler und Lieferanten vor unmittelbaren und komplexen Herausforderungen. Das Freihandelsabkommen wurde sehr spät abgeschlossen, und obwohl wir z.T. wussten, was kommen würde, war die Vorbereitungszeit viel zu knapp, zumal Großbritannien immer noch mit Corona zu kämpfen hat.Wir gewöhnen uns langsam an die neuen Regeln, aber während Kosten steigen und Lieferzeiten sich verlängern, sind die Erwartungen der Kunden nicht gesunken. Engpässe und Durcheinander bei den Logistikern und Spediteuren haben viele Probleme noch verschärft, vielleicht erinnern Sie sich an das Chaos, das rund um die Weihnachtszeit in den Häfen herrschte. Die Abläufe haben sich inzwischen etwas eingespielt, aber es bleibt enorm zeitaufwendig, Deklarationen zu erstellen und sicherzugehen, dass die richtigen Gebühren und Steuern angewendet werden.

Der BPMA steht im engen Kontakt mit britischen Regierungsvertretern, um das Bewusstsein für die Belange kleiner und mittelständischer Unternehmen in der Werbeartikelbranche zu schärfen. Wo liegen derzeit die größten Herausforderungen?

Carey Trevill: Es gibt zahlreiche Belastungen, die Lieferanten und Händler tragen müssen, und einige EU-Mitgliedstaaten haben britischen Unternehmen den Handel zusätzlich erschwert. In einem Treffen am 28. April hat der BPMA den britischen Exportminister um Unterstützung gebeten und ihm dabei die spezifischen Belange unserer Industrie aufgezeigt. Stellvertretend für unsere Mitglieder und die gesamte britische Branche haben wir verschiedene Lösungsansätze für Mehrwertsteuerprobleme präsentiert, denen Unternehmen, die in der EU handeln, ausgesetzt sind.

Haben Sie denn das Gefühl, dass die Belange der Branche in der Politik Gehör finden?

Carey Trevill: Das Meeting war sehr erfolgreich. Unsere Vorsitzende Angela Wagstaff (Gründerin von Allwag Promotions) und Vorstandsmitglied Andrew Langley (Gründer von Juniper Products) haben dem Exportminister – jeweils aus Händler- und Lieferantensicht – die Herausforderungen geschildert, mit denen sich eine Branche wie unsere konfrontiert sieht. Zudem haben wir die umfangreiche Aufklärungsarbeit hervorgehoben, die der BPMA für seine Mitglieder leistet, um ihnen bei der Anwendung der neuen Regularien zu helfen – wie die Bereitstellung von Informationen und die Organisation von Schulungen und Meetings. Wir führen weiterhin Gespräche mit verschiedenen Regierungsabteilungen, um Lösungen zu finden, die unserer Branche und anderen Sektoren in einer ähnlichen Situation helfen.

Gibt es Zahlen, die belegen, inwieweit die Exporte in der britischen Werbeartikelbranche seit Januar zurückgegangen sind?

Carey Trevill: Es ist schwer, die verheerenden Schäden, die jede Volkswirtschaft während der Pandemie erlitten hat, und die Auswirkungen – und Chancen – des Brexit auseinanderzuhalten. Insgesamt verzeichnet die Branche einen Geschäftsrückgang um bis zu 60% im Vergleich zu einem „normalen“ Vorjahreszeitraum. In einer kürzlich vom BPMA durchgeführten Umfrage gaben 56% der Befragten an, erhebliche Probleme mit dem Zoll und Verzögerungen an den Grenzen zu haben 41% meldeten im Januar einen unmittelbaren Geschäftsverlust. Die Situation hat sich seit Jahresbeginn verbessert, und wir rechnen damit, dass unsere nächsten Umfrageergebnisse ein positiveres Bild zeichnen. Es bleibt abzuwarten, wie hoch der tatsächliche Schaden sein wird. Zumal einige Mitglieder auch angegeben haben, dass sie vermehrt Chancen für Ihr Business sehen.

Gibt es denn Marktplayer, die ihre Exportaktivitäten infolge des Brexit komplett einstellen?

Carey Trevill: Leider ja. Für Unternehmen, die seltener exportieren und entsprechend weniger in den Export investiert haben, sind die neuen Prozesse besonders schwierig und kostspielig, weil z.B. einige EU-Mitgliedstaaten Anträge auf EU-Mehrwertsteuernummern verzögern oder ablehnen. Gleichzeitig stellt die Gesamtkostenbelastung selbst erfahrene Exporteure vor große Herausforderungen. Zwar geht man davon aus, dass sich die Lage entspannen wird, wenn mit Blick auf die Logistik und die korrekte Gebührenanwendung mehr Routine eingekehrt ist. Trotzdem: Wer Business in der EU machen will, muss jetzt viele zusätzliche Arbeitsstunden investieren.

Wie lautet Ihre Prognose für die britische Wirtschaft in den kommenden Monaten?

Carey Trevill: Vor Kurzem haben die Advertising Association (bei der der BPMA Mitglied ist) und das Marktforschungsinstitut Warc einen Report über die britischen Werbeausgaben veröffentlicht. Es wird geschätzt, dass die gesamten Werbeausgaben in Großbritannien in diesem Jahr um 15,2% auf insgesamt 27 Mrd. Britische Pfund (ca. 31 Mrd. Euro) steigen werden. Damit wäre der 2020 erlittene Rückgang von 1,8 Mrd. Pfund wieder aufgeholt, zudem wird für 2022 ein Anstieg von 7,2% auf einen Rekordwert von 29 Mrd. Britische Pfund (ca. 33 Mrd. Euro) prognostiziert. Großbritannien ist auf dem besten Weg, in diesem Jahr die stärkste Erholung der Werbeausgaben aller großen globalen Märkte zu erleben, und die britische Wirtschaft wird sich höchstwahrscheinlich nach der Pandemie stark erholen. Mit dem Ende des letzten Lockdowns erreichen die Branche wieder vermehrt Anfragen, und so haben wir Grund, vorsichtig optimistisch zu sein, wenngleich wir uns des schwierigen Weges bewusst sind, der vor uns liegt.

Viele britische Werbeartikelplayer unterhielten bislang einen sehr aktiven Handel mit der EU. Wie wird sich der Brexit langfristig auf die Beziehungen zwischen UKund EU-Unternehmen auswirken?

Carey Trevill: Ich bin zuversichtlich, dass unsere EU-Beziehungen weiterhin Bestand haben werden. Viele britische Firmen haben bereits Tochtergesellschaften in der EU gegründet oder planen dies, um den Warenaustausch zu erleichtern, und wir stellen fest, dass viele internationale Geschäftspartner weiterhin daran arbeiten, ihren Kunden hervorragende Ergebnisse zu liefern. Aufgrund der neuen Regularien können sich jedoch einige Beziehungen ändern. Das vollständige Ausmaß der Veränderungen wird möglicherweise erst später in diesem Jahr zutage treten, wenn die Welt wieder online geht.

// Mit Carey Trevill sprach Till Barth.

Bildquelle: BPMA

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