Im Auto fungieren Airbags und Anschnallgurte als Sicherheitssystem für Fahrer oder Fahrerin. Upgecycelt in einen robusten Lifestyle-Rucksack werden sie zum Sicherheitssystem für unseren Planeten, denn der wird langfristig nur geschützt, wenn wir das eigene Konsumverhalten überdenken und signifikant Müll reduzieren.

airpaq 1 - Airpaq: Aus ausgedienten Autoteilen

An einer Wirtschaftsuni nähen lernen? Im Masterstudiengang Strategic Entrepreneurship an der Universität in Rotterdam kein Problem, schließlich gilt der Studiengang als eine Art Kreativzweig der Betriebswirtschaftslehre. Und so durften sich Adrian Goosses und Michael Widmann, die es für das Studium von Maastricht und Wien nach Rotterdam verschlagen hatte, 2015 an die Nähmaschine setzen und ihre ersten Rucksack-Prototypen fertigen. Ursprünglich wollten die beiden Studienkollegen und Gründer des Kölner Start-ups Airpaq für ein Uni-Projekt aus alten LKW-Reifen stylishe Möbel bauen, aber schon beim ersten Besuch auf dem Schrottplatz wurde ihnen klar, dass schon allein der Transport der riesigen Reifen viel zu aufwendig wäre.

Als sie an einem Autowrack mit ausgelöstem Airbag vorbeikamen, war die Enttäuschung darüber allerdings schnell verflogen. Goosses: „So wie der Airbag über dem Lenkrad hing, hatte er eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Rucksack, und wir waren uns sofort einig: Das könnte funktionieren.“ Die beiden schnitten aus einigen der stillgelegten Autos Aufprallkissen, Sicherheitsgurte und Gurtschlösser heraus, kauften Nadel und Faden und designten ihren ersten Rucksack. „Die Reaktionen waren sofort positiv, alle waren begeistert, und das hat uns beflügelt, weiterzumachen“, so Gosses.

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Adrian Goosses (l) und Michael Widmann steuern ihr Start-up unfallfrei in Richtung Zukunft.

In den folgenden zwei Jahren entstanden im Rahmen des Studiums ein detaillierter Businessplan und elf weitere Prototypen an der Nähmaschine. Dabei suchten sich Goosses und Widmann Unterstützung von professionellen Näher:innen in Rumänien, wo ein Teil von Widmanns Familie in Timișoara eine Näherei betreibt. „Airbags und Gurte retten im Normalfall Leben, die Materialien halten extrem starken Kräften stand und sind im Grunde unkaputtbar – ideal, um daraus widerstandsfähige und langlebige Rucksäcke zu machen“, so Goosses. „Allerdings ist die Verarbeitung dieser festen Stoffe nicht ganz einfach und nur mit besonderen Maschinen möglich. Bis heute fertigen wir in Timișoara unter fairen und sozial vertretbaren Arbeitsbedingungen nach EU-Standards.“

Gemeinsam mit den Näher:innen wurde auch an der Funktionalität gefeilt, so machen u.a. Laptop-, Flaschen- und Reißverschlussfach den wasserabweisenden Rolltop-Rucksack zum praktischen Begleiter in jeder Lebenslage. 2017 war es dann schließlich so weit, und die beiden Freunde gründeten mit Airpaq ihre eigene Firma.

Schrott sei Dank

Nach Angaben des Umweltbundesamtes fielen in Deutschland allein im Jahr 2020 rund 406.000 Altfahrzeuge an. Die landen zwar zum Großteil in Demontagebetrieben und Schredderanlagen, aber die nichtmetallischen Bauteile aus den Fahrzeugen werden nur zu einem Bruchteil wiederverwertet. Hinzu kommt: Bei Aufprallkissen, Gurten und Co. handelt es sich um sicherheitsrelevante Bauteile, die strenge Kriterien erfüllen müssen. Schon bei geringfügiger Abweichung der Vorgaben werden sie als Ausschussware deklariert. Dasselbe geschieht, wenn z.B. Farbtöne nicht korrekt getroffen werden. So landen Gurte meter- und Airbags säckeweise im Müll. Goosses: „Wir haben mittlerweile gute Kontakte zur Autosicherheitsindustrie aufgebaut und beziehen viele Materialien von dort. Einer der Produzenten automotiver Sicherheitssysteme, von dem wir den Airbag-Stoff als Ausschussware beziehen, sitzt nur 20 km von unserer Näherei entfernt. Die Ware ist neuwertig, sauber und kann von uns direkt weiterverarbeitet werden. Die Gurtschlösser, die als Verschluss und Blickfang dienen, beziehen wir weiterhin von Schrottplätzen. Hat man die Logistik im Griff, ergibt sich – z.B. im Vergleich zu Textilien aus recycelten PET-Flaschen – beim Upcycling ein enorm hoher Effizienzgrad. Die Flaschen müssen schließlich erst aufwendig gesammelt, gesäubert und zu Garn weiterverarbeitet werden, bevor überhaupt ein T-Shirt oder ein anderes Produkt entstehen kann.“

Das Ziel der beiden Gründer ist es, nachhaltiges Denken und Handeln zum neuen Standard zu machen. „Wir möchten dazu anregen, das eigene Konsumverhalten zu überdenken und das Bewusstsein für Ressourcenknappheit zu stärken, damit eine nachhaltigere und umweltfreundlichere Zukunft geschaffen werden kann“, so Goosses.

Unikate mit Botschaft

Seit der Firmengründung bis Ende Dezember 2022 hat das Start-up rund 82 t Autoschrott in Form von 134.204 Airbags, 165.117 Sitzgurte und 42.691 Gurtschlösser upgecycelt. Für eine aktuellere Hochrechnung fehlt dem auf rund ein Dutzend Mitarbeitende angewachsenen Unternehmen momentan die Zeit, denn die Rucksäcke und Accessoires des Start-ups werden immer bekannter und beliebter. Zusätzlich zum eigenen Online-Shop sind sie über Internethändler wie Avocadostore, Etsy oder Zalando bestellbar und immer häufiger auch im stationären Handel zu finden.

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Der Crossbody-Look gelingt mit den stylishen Bauchtaschen.

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Durch das Gurtschloss ist sofort klar: Hier geht’s um Upcycling!

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Ein 3D-Konfigurator zeigt die Individualisierungsmöglichkeiten auf.

Außer den Rucksäcken zählen mittlerweile auch Bauchtaschen und Organizer, Schlüsselanhänger, Fliegen und demnächst eine Radaufhängung, mit der sich die Rucksäcke am Fahrrad befestigen lassen, zum Repertoire. Goosses: „Unsere Markenpräsenz im Retail wächst stetig, und das ist auch einer der Gründe, warum unsere Produkte so interessant für den Werbeartikelmarkt sind.“

In den stiegen die Kölner Anfang 2023 ein. Neben der Tatsache, dass werbende Unternehmen gerne haptische Botschafter einsetzen, die ihre Zielgruppen aus ihrem Alltag kennen, ist es die Produktion in Europa, die weitere Vorteile bietet. Dadurch kann das Start-up Aufträge in weniger als einem Monat umsetzen und auf Sonderwünsche eingehen. „Über den idealistischen Mehrwert der Nachhaltigkeit hinaus ist das ein greifbarer Mehrwert“, fasst Goosses zusammen.

Eine namhafte Organisation, die auf Airpaq setzt, ist der Automobilclub ADAC, der einen Rucksack mit knallgelbem Korpus und gesticktem Logo als Präsent für die eigenen Mitarbeiter:innen, aber auch bei Verlosungen oder als Merchandisingartikel einsetzt. Im Online-Shop von Fußball-Erstligist Eintracht Frankfurt wiederum können Fans ein schwarz-weißes Modell mit Logo erstehen. Die verwendeten Farben sind nach Oeko-Tex zertifiziert, und da die Färberei über eine hauseigene Kläranlage verfügt, wird auch das Abwasser umweltschonend entsorgt.
Während sich das aus Recycling-Stoff bestehende Innenleben des Rucksacks vollständig nach Pantone einfärben lässt, sind exakte CI-Farbtöne bei den zahlreichen äußeren Komponenten aus Airbag-Stoff etwas schwieriger umzusetzen. Einen ersten Eindruck von der (Farb-)Vielfalt der Gestaltungsmöglichkeiten vermittelt ein 3D-Konfigurator auf der Website des Start-ups. Zudem lassen sich auf Wunsch Hangtags aus Gurtschnittresten per Siebdruck mit Logos und Co. veredeln. Mittels eines weiteren Hangtags erfahren die neuen Besitzer:innen mehr über die Geschichte der Rucksäcke – und das ist ein echter USP. Goosses: „Man hat schon versucht, unser Design nachzuahmen, aber unsere Story kann man nicht kopieren.“

// Jasmin Oberdorfer

www.airpaq.de

Bildquelle: Airpaq

 

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