Tide Ocean stellt aus Kunststoff, der an Stränden und in Meeresnähe gesammelt wurde, hochwertiges Rezyklat her. Mitgründer Marc Krebs über die Arbeitsweise des Schweizer Unternehmens, Maßnahmen gegen Greenwashing und den Wert, den Plastikmüll für Hersteller und Marken hat.

Herr Krebs, Tide Ocean wurde vor vier Jahren gegründet. Wie kam die Idee zu der Organisation zustande, und wie sind Sie heute aufgestellt?

interview marckrebs v - „Ozeanplastik ist für Marken eine tolle Story“

Marc Krebs

Marc Krebs: Mein Co-Gründer Thomas Schorri führt ein Familienunternehmen und beliefert die Schweizer Uhrenindustrie sowie Marken wie Samsung, Armani, Hugo Boss und Fossil mit Armbändern. Er suchte nach einem Weg, Ozeanplastik für seine Produkte zu nutzen und hat sich daraufhin an Prof. Daniel Schwendemann an der Ostschweizer Fachhochschule gewandt. Nach mehreren Machbarkeitsstudien gingen wir damit in den Markt, was daraufhin nicht nur in der Uhrenindustrie, sondern auch in anderen Branchen sofort auf großes Interesse stieß. Aus dieser Nachfrage heraus haben wir die Tide Ocean SA gegründet. Für uns war es von Anfang an wichtig, einen kommerziellen Ansatz zu verfolgen, damit wir ein nachhaltiges, internationales Geschäftsmodell aufbauen können, von dem alle profitieren: die Fischer wie auch die Marken.

Heute beschäftigen wir am Hauptsitz in der Schweiz zwölf Personen und haben Tochterfirmen in Thailand und in Mexiko. Hinzu kommen Sales Manager in den USA und in Hong Kong, insgesamt sind es etwa 25 Mitarbeitende. Schon nach einem Jahr kam die erste Uhr heraus, inzwischen haben mehr als 50 Marken Produkte lanciert, die unser #tide ocean material® enthalten.

In welchen Regionen sind Sie tätig?

Marc Krebs: Thailand ist unser Haupt-Hub, darüber hinaus sourcen wir in Indonesien, auf den Philippinen, in Mexiko und bald auch in Ghana. Die Filiale in Mexiko haben wir mit Augenmerk auf die USA gegründet, um lange Transportwege zu den dortigen Kunden zu vermeiden. Kunststoff, der in Asien zu neuen Produkten verarbeitet werden soll, granulieren wir direkt in Asien. Aktuell richten wir unseren Fokus außerdem auf Europa, denn auch wir Europäer sind, was Entsorgung und Recycling angeht, noch lange nicht da, wo wir eigentlich sein sollten. Unser Ziel ist, bis 2025 auf jedem Kontinent eine in sich geschlossene Lösung zu haben.

Wie gehen Sie beim Sammeln des Rohstoffs vor?

Marc Krebs: Unser System ist lokal organisiert und kommt direkt den Menschen vor Ort zugute. Die Sammlerinnen und Sammler können den Kunststoffmüll in von uns betriebene Sammelzentren bringen, wo er gewogen, erfasst, getrackt und händisch vorsortiert wird. Anschließend wird der gesammelte Kunststoff gereinigt und kommt in ein Recyclingcenter. Dort kommt dann unsere Technologie zum Einsatz, die aus dem Plastikmüll ein Rezyklat macht, das qualitativ nahezu an die Qualität von neuem Kunststoff, sogenanntem Virgin Plastic, heranreicht.

Wo genau sammeln Sie den Kunststoffmüll?

Marc Krebs: Wir sammeln ganz bewusst an den neuralgischen Punkten. Studien haben gezeigt dass 80% des Meeresplastiks über Zuflüsse ins Meer gelangt, v.a. in Ländern, die kein funktionierendes Abfallwirtschaftssystem haben. In Südostasien z.B. geschieht das insbesondere während der Monsunzeit, wenn große Wassermassen den Müll, der häufig auf illegalen Deponien lagert, mit sich reißen. Deshalb sprechen wir auch ganz bewusst von Ocean Bound Plastic. Während „Ocean Plastic“ ein schwammiger, nicht genau abgegrenzter Begriff ist, ist „Ocean Bound Plastic“ klarer definiert: Kunststoff, der nicht sauber entsorgt ist, in Meeresnähe liegt und früher oder später im Meer landen würde.

Können denn Fischer, die Plastik als Beifang in ihren Netzen hatten, dieses auch bei Ihnen abliefern?

Marc Krebs: Ja, natürlich. Wobei sich viele mit dem Sammeln ohnehin ein zweites Standbein geschaffen haben, als während der Pandemie die Nachfrage an Fisch für die Gastronomie weggebrochen ist. So, wie die Fischer auf dem Markt für das Kilo Fisch bezahlt würden, bezahlen wir sie für das Kilo Plastik. Auch Mitarbeiter aus dem Tourismusgewerbe sammeln für uns. Viele sind nur während der Hauptsaison beschäftigt und froh um andere Einkommensmöglichkeiten. Zudem arbeiten wir in Thailand mit der Jan & Oscar Foundation zusammen, die sich nach dem Tsunami im Jahr 2004 gegründet hat und uns z.B. bei unserer Zusammenarbeit mit den Moken, einem Volk von Seenomaden, unterstützt.

interview marckrebs strand - „Ozeanplastik ist für Marken eine tolle Story“

Viel zu tun: Strandsäuberungsaktion an der mexikanischen Costa Maya.

interview marckrebs boot - „Ozeanplastik ist für Marken eine tolle Story“

Ein Fischer bringt seine gesammelten Waren zur Recycling-Station von Tide Ocean.

Neben der Schaffung einer Infrastruktur für die Aufbereitung ist ein weiterer wichtiger Punkt, dass man der Bevölkerung dabei hilft, Müll sachgerecht zu entsorgen. Unternehmen Sie etwas in diese Richtung?

Marc Krebs: Ja. Wir haben das Programm „The Road to 1 Billion Bottles“ ins Leben gerufen, um noch mehr sozialen Impact kreieren zu können. Die Schweizer Uhrenmarke Maurice Lacroix, die mit der Aikon Tide eine ganze Kollektion nach uns benannt hat, unterstützt uns z.B. finanziell, damit wir Schulworkshops und Infoveranstaltungen durchführen können. Mir hat mal ein Politiker in Thailand gesagt, die ganze Welt habe mit dem Kunststoff ein wunderbares Material erhalten, aber nicht alle Länder die Bedienungsanleitung dazu. Es gibt noch viel Aufklärungsarbeit zu verrichten.

#tide ocean material® besteht Ihrer Aussage zufolge zu 100% aus Ocean Bound Plastic. Wie stellen Sie das entlang der Produktionskette sicher?

Marc Krebs: Es gibt im Zusammenhang mit Ozeanplastik viel „Kleingedrucktes“. Davon wollen wir uns abgrenzen und haben zusammen mit der norwegischen Organisation Empower einen Materialpass entwickelt. Direkt bei der Anlieferung des Materials wird dessen Herkunft und Volumen erfasst und auf einer unveränderbaren Blockchain gespeichert. Dieser Trackingprozess wird bis zum fertigen Granulat fortgesetzt. Auf diese Weise erhält der Kunde eine lückenlos nachvollziehbare Lieferkette.

Darüber hinaus lassen wir unsere Arbeits- und Produktionsstätten, unsere Lohnbuchhaltung und unsere Organisation von unabhängigen Auditgesellschaften überprüfen und zertifizieren und bezahlen unser Personal über dem gesetzlichen Mindestlohn. Die Brands, die unser Material einsetzen, tun damit dann nicht nur etwas für die Umwelt, sondern schaffen auch sozialen Impact. Das ergibt eine starke Geschichte, die sie erzählen können. Denn, das braucht man nicht zu verschweigen: Ozeanplastik ist für Marken eine tolle Story.

Bis es soweit ist, muss der Stoff aber erst einmal recycelt werden. Welche aus dem Ozean „geborgenen“ oder an Stränden gesammelten Kunststoffe eignen sich überhaupt dafür?

Marc Krebs: Sortenreinheit ist das A und O. Am meisten nachgefragt ist PET, woraus man Garne für Textilien herstellen kann, das aber auch für den Spritzguss geeignet ist. Sehr beliebt ist zudem PP, auch HDPE und LDPE sind immer mehr im Kommen. Das sind auch die vier Kunststoffarten, die am meisten weggeworfen und gesammelt werden. Zudem untersuchen wir gerade das Thema Fischernetze, von denen es ein riesiges Angebot gibt. Die kommen dann auch oft wirklich aus dem Meer.

Wie funktioniert der Prozess, bei dem aus Plastikschrott, der durch Sonne, Salz etc. in Mitleidenschaft gezogen wurde, hochwertiger Rohstoff entsteht?

Marc Krebs: Wir haben eine Technologie entwickelt, die wir aus naheliegenden Gründen vertraulich behandeln. Aus dem degenerierten Plastik stellen wir in einem mechanisch-physikalischen Prozess neuen Rohstoff her in einer Qualität, die sich für verschiedene Anwendungen eignet.

interview marckrebs maschine - „Ozeanplastik ist für Marken eine tolle Story“

Bei der Entwicklung einer Technologie zur Aufbereitung und Weiterverarbeitung von Plastikschrott bekam Tide Ocean Hilfe durch das Schweizer Insitut für Werkstofftechnik und Kunststoffverarbeitung.

Wie verhält sich #tide ocean material® preislich im Vergleich zu konventionellem Kunststoff?

Marc Krebs: Das kann man nicht so genau sagen, weil auch die Preise von Virgin Plastic aufgrund des Rohölpreises stark schwanken. Wir sind sicher etwas teurer, aber die meisten Kunden sehen den Mehrwert, den sie erzeugen können. Der politische Druck – neue Gesetze – zwingt die Herstelle ja förmlich dazu, in den nächsten Jahren auf recycelte Produkte zurückzugreifen. Es geht nicht mehr nur darum, grün zu wirken, sondern es tatsächlich auch zu werden. Ich glaube, dass unser Preis irgendwann unter dem Preis für neuen Kunststoff liegen wird, denn je höher das Volumen, das wir sammeln, desto einfacher werden sich unsere Investitionskosten amortisieren. Dann gibt es gar keine Argumente mehr gegen Rezyklate.

Es gibt eine ganze Reihe weiterer Organisationen, die ähnlich wie Sie arbeiten. Sehen Sie sich als Wettbewerber?

Marc Krebs: Eigentlich nicht. Es braucht viele, wenn wir das globale Plastikproblem ganzheitlich lösen wollen. Deshalb sind wir auch im Next-Wave Plastics-Konsortium, das von US-Unternehmen ins Leben gerufen wurde. Dort sitzen wir mit Konzernen wie Hewlett-Packard und Ikea an einem Tisch und suchen gemeinsam nach Lösungen.

Was sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Hebel im Kampf gegen die Ursachen mariner Plastikverschmutzung?

Wir müssen Wissen exportieren, wir müssen Technologie exportieren, wir müssen umschalten: Recycling ist nicht nice to have, sondern das Modell, das wirklich auf allen Ebenen nachhaltig ist – für die Natur, für die Communitys, aber auch für die Brands, die entsprechende Produkte einsetzen. Wenn wir Abfall von Anfang an als etwas Wertvolles betrachten, gibt es keinen Grund mehr, ihn irgendwo achtlos hinzuwerfen.

// Mit Marc Krebs sprach Till Barth.

Bildquelle: Tide Ocean

 

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